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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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l’Empire ! (Laßt uns über das Heil des Kaiserreichs wachen!); jetzt keine Sentimentalitäten, sondern nur der Gedanke an das Reich. Dieses Lied war unter Napoleon die offizielle Kaiser-Hymne. Als die ersten Granaten in die Kolonnen der Garde einschlugen, drängten sich die Soldaten dicht um Napoleon, um ihren Kaiser mit ihren Körpern zu schützen. Der polnische General Dezydery Chłapowski, inzwischen zum General befördert, beobachtete Napoleons Kaltblütigkeit: »Eine Granate schlug dicht beim Kaiser ein, er schlug mit seiner Reitpeitsche nach ihr und sagte: ›Ich habe solche Dinger schon lange nicht mehr vor meinen Füßen gehabt.‹ Die Granate krepierte, schüttete etwas Schnee über den Kaiser, aber verwundete niemand.« Wegen dieser Kaltblütigkeit vergötterten die Soldaten Napoleon.
    Dennoch konnte auch die Garde das Blatt nicht wenden, aber sie sorgte für einen geordneten, von den Russen nicht behelligten Rückzug. Und das war das eigentliche Rätsel dieser Schlacht: Warum ließ man Napoleon diesen ungestörten Rückzug, den allein schon die weitüberlegene russische Artillerie hätte unschwer verhindern können? Aber Kutusow verbot zur Empörung seiner Generale die Verfolgung. Warumer so handelte, hat sich bis heute nicht klären lassen. Er wolle dem angeschlagenen Feind eine goldene Brücke bauen, hatte Kutusow zu Sir Robert Wilson gesagt. Dies könnte ein Motiv gewesen sein. Die russischen Verluste waren seit Beginn der Verfolgung groß; nach den Kämpfen im Raum von Krasnoje standen Kutusow nur noch 26 500 Soldaten zur Verfügung, die als einsatzfähig gelten durften. Und er fürchtete sich vor Napoleon, dem er auch das Unwahrscheinlichste zutraute. Daher erschien es ihm besser, den sich zurückziehenden Truppen Napoleons in einiger Distanz zu folgen. Die Auflösungserscheinungen der Grande Armée waren nicht zu übersehen, da ließen sich die eigenen Soldaten schonen. Hinzu kam, daß Kutusows Soldaten überwiegend kaum ausgebildete Rekruten (Bauern) waren, den französischen Soldaten unterlegen, und von Napoleons Generalen und Marschällen hatte Kutusow eine weit bessere Meinung als von seinen eigenen. So untersagte er allen Protesten seines Offizierskorps zum Trotz die attackierende Verfolgung des Gegners und ließ ihn entkommen. Lieber dankte er seinem Vater im Himmel mit einem großen Gottesdienst für den Sieg.
    Empört kommentiert Woldemar von Löwenstern das Verhalten Kutusows: »Mit Aufopferung einiger tausend Mann war hier der Krieg auf die ruhmvollste Weise zu beenden und das Selbstgefühl des Heers aufs höchste zu steigern. Statt dessen tat er alles, um Mut und Stolz des Heers niederzuschlagen, indem er aufs strengste jeden Angriff verbot und dem kleinsten feindlichen Haufen respektvoll Platz zu machen befahl; und gewährte damit zugleich dem Feinde die erwünschte Ausflucht: ›nicht durch feindliche Waffen, nur durch der Elemente Zorn besiegt worden zu sein‹. – Und erreichte Kutusow seine Absichten? Mitnichten! Der Kern des feindlichen Heers, Napoleon, seine Marschälle, die besten Generale und Offiziere entkamen: und man hatte jetzt noch drei Jahre Krieg zu führen, Blut in Strömen zu vergießen, Hunderttausende zu opfern, ward mehrmals an den Rand des Verderbens geführt,ehe man das mit Hilfe von ganz Europa erreichte, was man hier allein und mit ganz anderer Glorie hätte vollbringen können. Und die Opfer! Da zeigte sich abermals die menschliche Kurzsichtigkeit. Die eine Entscheidungsschlacht bei Krasnoje gegen die vereinzelten, entnervten, von Geschütz und Reiterei entblößten Korps hätte vielleicht nicht den zehnten Teil dessen gekostet, was die lange, fortgesetzte Verfolgung bis Wilna bei 20 und mehr Grad Kälte, unter Not und Entbehrungen auf verödeter Straße kostete. Man hat dieses nicht in Anschlag gebracht, und doch ist’s gewiß, daß von den ( russischen ) 100 000 Mann, die noch bei Malojaroslawez versammelt waren, kaum einige und dreißig Tausend Wilna erreichten: die übrigen waren, ohne daß man eine Schlacht gekämpft, entweder tot oder unbrauchbar zu fernerem Dienst oder füllten die Spitäler. Nein, kein russischer Patriot wird es Kutusow je vergeben, durch seine Schlaffheit Heer und Volk um den höchsten Ehrenpreis gebracht zu haben.«
    So zog Napoleon unbehelligt mit mittlerweile nur noch 30 000 kampffähigen Soldaten und 40 Kanonen ab und marschierte mit ihnen auf Orscha, das er am 19. November erreichte. Hier überquerten seine Truppen den

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