Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
Vom Netzwerk:
daß der Brand ein Gottesgericht wäre, denn allgemein herrschte unter ihnen der Glaube, daß die, welche hier so schrecklich umgekommenen waren, die größten Schätze an Diamanten, Gold und Silber in Moskau gefunden und mitgenommen hätten. Daher sah man auch viele, trotz ihres Elends und ihrer Schwäche, sich mit Kräftigeren vereinigen, um auf die Gefahr hin, sich schwere Brandschäden zuzuziehen, Leichen aus der Glut zu holen und nach den bei ihnen vermuteten Schätzen zu suchen. Andere äußerten: ›Es ist ihnen schon recht geschehen, denn hätten sie uns das Dach nehmen lassen, wäre ihnen das nicht widerfahren‹, und noch andere hielten ihre Hände über die Glut, als wüßten sie gar nicht, daß mehrere hundert ihrer Kameraden, vielleicht eigene Verwandte, das Feuer mit ihren Leibern nährten, und sagten: ›Was für ein herrliches Feuer, da wird man doch endlich einmal warm!‹ Und dabei rieben sie sich die Hände vor Behagen.«
    Die Armee hatte kaum etwas vom alten Glanz der Uniformen bewahren können, nur frische Truppen, die als Reserven auf die sich Zurückziehenden stießen, waren noch sauber und korrekt uniformiert. »Hunger und Kälte zerstörten immer mehr die militärische Ordnung und gaben den früher in kriegerischem Schmucke so stolz einherziehenden Soldaten das Ansehen einer Räuberbande«, beschreibt Kanonier HeinrichWesemann die sich Begegnenden, die einander mit ungläubigem Staunen ansahen. »Denn vom Rauche des Lagerfeuers im Biwak waren die Gesichter der Soldaten geschwärzt und ihre Augen schrecklich gerötet und hervorgequollen; die Bärte waren lang und verworren, denn an ein Abnehmen derselben war nicht zu denken, und mit geronnenem und festgefrorenem Blute errötet, welches aus dem auf den Bajonetten halbgar gebrannten und mit den Zähnen zerrissenen Pferdefleische herabgelaufen war. Keine Räuber, mag man sie noch so gräßlich sich denken, können ein gräßlicheres Ansehen haben.« Auch das Stehlen nahm überhand. Wer morgens aufwachte, fand sich seines Pferdes beraubt, wenn er zu den Glücklichen gehörte, die überhaupt noch eines besaßen; es fehlten besonders Pelze und wärmende Mäntel, weswegen man sie am besten übereinander am Körper trug (die meisten Kleidungsstücke waren inzwischen verlaust und so gut wie nicht vom Ungeziefer zu befreien); wer noch einen Koffer mit sich führte, der war ihn rasch los mitsamt dem mitgeführten Wagen, der allerdings meist bald zurückgelassen werden mußte, weil es an Pferden fehlte. Diebstahl und Raub verschonten inzwischen auch Generale nicht mehr. Heinrich Wesemann schildert eine drastische Begegnung: »Eines Tages arbeiten wir auch mit größester Anstrengung daran, unsere Kanonen fortzuschaffen, die entkräfteten Pferde wankten nur hin und her, stürzten oft nieder und konnten nicht weiter fort, und es war nahe daran, daß wir eine unserer Kanonen stehenlassen mußten. Da kam ein prachtvoller Wagen, bespannt mit vier noch ziemlich kräftigen Pferden, dahergefahren. Kameraden! rief ein Kanonier, dort sind bessere Pferde, laßt uns die nehmen! Und schnell wurde Hand angelegt und die Pferde vor dem Wagen aus und mit vor die Kanonen gespannt, während man einige andere Pferde, welche dem Umstürzen nahe waren, ausschirrte. – Wütend sprang der Herr, welcher im Wagen saß und der vielleicht ein General war, welcher sein Korps im Stiche gelassen hatte und auf seine eigene Rechnung bedachtgewesen war, oder auch einer jener Kriegskommissare, welche auf Unkosten der Soldaten für sich selbst desto besser gesorgt hatten, heraus, schalt und lärmte und drohte mit den Pistolen. Doch sein Fluchen und Schelten kümmerte die Artilleristen wenig, sie verstanden seine Sprache ja nicht einmal. Seinen Pistolenläufen wurden Flintenläufe mit aufgepflanztem Bajonett entgegengesetzt, und bald sah er ein, daß ihm nichts übrigbliebe, als der Gewalt nachzugeben.
    Während solchen Vorgangs zog die Menge, teils noch bewaffnet, in buntem Gewühl, meist starr und teilnahmslos vorüber. Kaum waren aber die abgemagerten Pferde ausgespannt, so fielen Haufen halbverhungerter Menschen wie Raubtiere darüber her, um sie vollends zu töten und ihr Fleisch zu nehmen, kaum daß die Kanoniere, welche sie soeben abgeschirrt hatten, noch ihr Teil davon nehmen konnten. Andere Haufen fielen über den Wagen her, um ihn durchzusuchen und zu nehmen, was ihnen gefiel und sich fortschaffen ließ. Noch andere, denen hiervon nichts zuteil geworden war, rissen das Tuch, mit

Weitere Kostenlose Bücher