Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Aufwachen«, sagt mein Vater. » Die Polizei ist da.«
Ich reibe mir die Augen und blinzele die beiden Fremden an. Sie tragen Uniform, hochgekrempelte weiße Hemdsärmel, und die zerknitterten dunklen Hosen sind ganz schlaff vom stundenlangen Tragen an so einem heißen Tag. Die Frau lächelt mich an. » Alles klar?«
Ich nicke.
» Wie heißt du denn, meine Kleine?«
» Sarah«, antworte ich. Meine Stimme klingt tief und ist vom langen Schweigen und vor Schüchternheit ein wenig heiser.
» Deine Eltern haben uns erzählt, dass dein Bruder verschwunden ist und du ihnen nicht sagen kannst, wo er ist. Stimmt das, Sarah?«
Ich nicke wieder.
Als die Polizistin mit mir spricht, ist ihr Tonfall höher als zuvor. Ihre königsblaue Wimperntusche hat sich in den Falten um ihre Augen ausgebreitet. Wenn sie mich anlächelt und sich zu mir herunterbeugt, werden die blauen Linien ganz eng zusammengedrückt. » Würdest du mir denn sagen, wo er ist?«
Ich schüttle sehr ernst den Kopf. Ich würde, wenn ich könnte, denke ich bei mir, sage es jedoch nicht laut. Die Polizistin wechselt einen Blick mit ihrem Kollegen. Einen Moment lang spiegelt sich sein eisiger Blick in ihren Augen, dann wendet sie sich wieder lächelnd an mich. » Dann zeig mir doch bitte mal das Zimmer von deinem Bruder.«
Ratsuchend schaue ich zu meiner Mutter. » Geh schon«, sagt sie und sieht mich nicht an. » Na los.«
Geruhsam stehe ich auf, gehe zur Treppe, und die Polizistin folgt mir. Ich habe sie noch nie gesehen, aber ich merke schon, dass sie sich einbildet, gut mit Kindern umgehen zu können. Sicher wird sie sich, gleich nachdem sie die Tür hinter uns geschlossen hat, zu mir herabbeugen, mir tief in die Augen schauen und mich wieder fragen, ob ich weiß, wo mein Bruder hingegangen ist. Langsam steige ich die Treppe hinauf, halte mich am Geländer fest und hoffe inständig, dass Charlie in seinem Zimmer ist, wenn ich gleich seine Zimmertür aufmache.
4
Als ich nach Hause kam, klingelte gerade das Telefon. Ich rannte hin, weil ich wusste, dass Mum sich nicht darum kümmerte. Zähneknirschend nahm ich den Hörer ab, weil ich an dem Tag eigentlich mit niemandem mehr reden wollte, aber im Gegensatz zu Mum das schrille Geklingel nicht aushielt. Wahrscheinlich wollte uns sowieso nur wieder jemand irgendwas aufschwatzen.
» Hallo?«
» Sarah?« Die Stimme am anderen Ende klang warm und ehrlich besorgt. » Ist alles in Ordnung bei euch, meine Liebe?«
» Mir geht es gut, Tante Lucy«, erwiderte ich, ließ mich auf die unterste Treppenstufe fallen und spürte, wie die Anspannung nachließ. Tante Lucy war Mums ältere Schwester. Obwohl nur drei Jahre zwischen ihnen lagen, hatte sie Mum immer bemuttert. Auf sämtlichen Kinderfotos schiebt sie Mums Kinderwagen oder zieht sie an der Hand hinter sich her. Selbstlos und ohne sich zu beklagen, war Tante Lucy immer für Mum dagewesen, als Charlie verschwand. Von allen ihren Freunden war sie die Einzige, die Mum noch nicht erfolgreich vergrault hatte. Ich hatte sie schon deshalb furchtbar gern, weil sie ihrer Schwester zuverlässig zur Seite stand, auch wenn sie schwierig geworden war. Tante Lucy gab eben niemals auf.
» Als ich von diesem armen Mädchen gehört habe, musste ich gleich an euch denken. Wie geht es denn deiner Mutter?«
Ich schaute um die Ecke und vergewisserte mich, dass niemand in der Küche war. » Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen, selbst heute früh nicht. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt schon davon gehört hat.«
» Dann ist es vielleicht besser, sie nicht damit zu beunruhigen.« Tante Lucy klang besorgt. » Wer weiß, wie sie darauf reagiert. Ich war ja entsetzt, als ich das in den Nachrichten gehört habe. Der Fundort ist doch ganz bei euch in der Nähe, oder?«
» Ja«, antwortete ich, und unwillkürlich stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich räusperte mich. » Jenny war auf der Edgeworth-Schule. Ich habe sie unterrichtet, Tante Lucy.« Ach ja, und übrigens habe ich die Leiche gefunden. Ich brachte es einfach nicht über die Lippen.
Sie klang ganz erschrocken: » Ich hatte keine Ahnung, dass du sie kanntest. Das ist ja furchtbar. Und für deine Mutter wird es dadurch sicher auch nicht gerade besser.«
Ich hielt den Hörer so fest umklammert, dass das Plastikgehäuse bedrohlich knackte, und verwarf die ersten drei Dinge, die ich spontan entgegnen wollte, weil sie zu unsensibel für meine arme, wohlmeinende Tante waren. Es war schließlich nicht Tante Lucys
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