Die Verschwoerung von Whitechapel
ist. Aber es ist nur für eine Weile. Bestimmt vermisst er uns mehr als wir ihn, denn zumindest sind wir hier alle zusammen, wo es uns gut geht. Er muss da sein, wo man ihn braucht, und da ist es in keiner Weise so sauber und angenehm wie hier bei uns zu Hause.«
Jemima schien so bedrückt zu sein, dass sie anfing zu hadern.
»Aber warum Papa und nicht jemand anders?«
»Weil die Sache schwierig ist und es keinen Besseren gibt«, teilte ihr Charlotte mit. Diesmal war die Antwort einfach. »Wenn jemand der Beste ist, muss er immer seine Pflicht tun, weil es keinen anderen gibt, der sie für ihn tun kann.«
Jemima lächelte. Diese Vorstellung gefiel ihr.
»Hinter was für Leuten ist er her?« Daniel war nicht bereit, sich ohne weiteres abspeisen zu lassen. »Was haben die getan?«
Das ließ sich weniger leicht erklären. »Sie haben es noch nicht getan. Er versucht sie daran zu hindern.«
»Und was haben die vor?«, ließ er nicht locker.
»Sie wollen Gebäude mit Dynamit sprengen«, gab sie zur Antwort.
»Was ist Dynamit?«
»Zeug, mit dem man Sachen in die Luft jagen kann«, teilte ihm Jemima mit, bevor Charlotte Zeit hatte, sich eine Erklärung zu überlegen. »Damit kann man auch Leute umbringen. Das weiß ich von Mary Ann.«
»Wieso das?« Daniel hielt nicht viel von Mary Ann. Mädchen taugten in seinen Augen ohnehin nicht viel, und von solchen Sachen, wie Dinge in die Luft jagen, verstanden sie schon gar nichts.
»Weil die dann in Stücken sind, Dummkopf«, gab sie zurück, froh über die Gelegenheit, sich für die erlittene Kränkung zu
rächen. »Du könntest ohne Arme und Beine und ohne Kopf auch nicht leben.«
Damit schien die Sache fürs Erste erledigt, und sie gingen nach unten zum Frühstück.
Irgendwann nach neun Uhr, Daniel klebte gerade ein Boot aus Pappe zusammen, klopfte es an der Haustür. Jemima ging hin, ließ ihre Tante Emily ein und schickte sie in die Küche, wo Charlotte am Spülbecken Kartoffeln schälte.
»Wo ist dein Mädchen?«, fragte Emily und sah sich um.
»Einkaufen«, teilte ihr Charlotte mit und wandte sich ihr zu.
Emily sah sie besorgt an, die blonden Brauen leicht gehoben. »Wie geht es Thomas?«, erkundigte sie sich leise. Es war nicht nötig, Charlotte nach ihrem Ergehen zu fragen, sie konnte die Anspannung in ihrem Gesicht sehen und die Mattigkeit, mit der sie sich bewegte.
»Ich weiß es nicht«, gab Charlotte zur Antwort. »Jedenfalls nicht genau. Er schreibt oft, behält aber wohl vieles für sich, und weil ich sein Gesicht nicht sehen kann, weiß ich nicht, ob es stimmt, wenn er mir mitteilt, dass es ihm gut geht. Für Tee ist es heute wohl zu heiß. Möchtest du lieber etwas Limonade?«
»Gern.« Emily setzte sich an den Tisch.
Charlotte holte Limonade aus der Speisekammer, goss zwei Gläser voll und schob Emily eines hin. Dann setzte sie sich ebenfalls und berichtete alles, was geschehen war – von Gracies Nachforschungen, die sie zum Mitre Square geführt hatten, bis hin zu Tellmans nächtlichem Besuch. Emily unterbrach sie nicht ein einziges Mal, sondern saß mit bleichem Gesicht da, bis Charlotte aufhörte zu sprechen.
»Das ist bei weitem entsetzlicher als alles, was ich mir vorgestellt habe«, sagte Emily schließlich mit zitternder Stimme. »Wer steckt dahinter?«
»Ich ahne es nicht«, gab Charlotte zu. »Es könnte jeder sein.«
»Hat Mrs. Fetters eine Vorstellung?«
»Nein … nehme ich jedenfalls an. Bei meinem letzten Besuch haben wir Martin Fetters’ Papiere gefunden, aus denen hervorgeht, dass er ein glühender Vertreter republikanischer Ideen war. Sollte er von dieser schrecklichen Sache gewusst haben
und Adinett Monarchist und mit in sie verwickelt gewesen sein, könnte das erklären, warum er ihn umgebracht hat.«
»Natürlich. Aber wie kannst du das jetzt weiterverfolgen?« Emily beugte sich angespannt vor. »Sei um Himmels willen vorsichtig! Überleg nur, was die alles schon getan haben! Adinett ist zwar tot, aber es sind bestimmt noch eine Menge von ihnen am Leben, und du hast keine Vorstellung, wer sie sein könnten!«
Dagegen ließ sich nichts sagen. Trotzdem war Charlotte entschlossen, etwas zu unternehmen. Wenn sie bedachte, dass Pitt nach wie vor in Spitalfields saß, während Männer, die abscheulicher Verbrechen schuldig waren, straflos ausgehen würden …
»Man muss etwas tun«, sagte sie ruhig. »Wenn nicht wir es zumindest probieren, wer dann? Außerdem muss ich wissen, ob das die Wahrheit ist. Juno hat das Recht zu
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