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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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stieg. Mit einem Mal ging ihm auf, wie sich andere beim Verhör durch ihn gefühlt haben mussten – Männer, die möglicherweise die Tat nicht begangen hatten, aber andere Geheimnisse zu verbergen hatten.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er, so ruhig er konnte. »Vermutlich hat der, der ihn erschossen hat, sie wieder mitgenommen.«
    »Und wer könnte das Ihrer Ansicht nach sein?«, fuhr Harper fort, die blassblauen Augen auf ihn gerichtet. »Sind nicht Sie beide die Nachtwache? Wer ist gekommen und gegangen? Oder wollen Sie damit sagen, dass es einer der Männer war, die hier arbeiten?«
    »Nein!« Wally tat zum ersten Mal den Mund auf. »Warum sollte einer von uns das tun?«
    »Gewiss, mit klarem Verstand betrachtet, gibt es keinen Grund dafür«, gab Harper zur Antwort. »Höchstwahrscheinlich hat er sich selbst erschossen, und Mr. Pitt hat geglaubt, er könnte ein kleines Andenken mitnehmen. Die Waffe vielleicht für ein paar Shilling verkaufen. War es eine gute Pistole?«
    Verblüfft sah ihn Pitt an. In diesem Augenblick wurde ihm voll Entsetzen klar, dass Harper von vornherein gewusst hatte, was er vorfinden würde. Der Mann gehörte dem Inneren Kreis an und wollte unbedingt Sissons’ Tod als Selbstmord hinstellen, ganz gleich, was Pitt getan haben mochte. Pitts Kehle zog sich zusammen, sein Mund war wie ausgedörrt.
    Harper lächelte überlegen, ganz Herr der Situation.
    Jenkins sagte unsicher: »Wir ha’m keine Beweise dafür, Sir.«
    »Aber auch keine dagegen«, sagte Harper scharf, ohne den Blick von Pitt zu lösen. »Wir wollen doch mal sehen, was sich findet, wenn wir uns da näher umschauen, was?«
    Wally schüttelte den Kopf. »Sie haben keinen Grund zu sagen, dass Tom die Pistole genommen hat.« Zwar hörte man Angst in seiner Stimme, aber sein Gesicht war starr. »Un Mr. Sissons hat sich nie im Leben selbst umgebracht. Der Schuss is in die rechte Schläfe gegangen, wie wenn er Rechtshänder wär, und das war er auch. Aber seine rechten Finger waren gebrochen
und eine Sehne kaputt. Er konnte sie nich krumm machen. Also hätte er mit der Hand auch keine Pistole abfeuern können. Lassen Sie sich ’nen Arzt das ansehen, der sagt Ihnen genau dasselbe.«
    Harper war verwirrt und verärgert. Er wandte sich an Jenkins, stieß aber nur auf einen Blick stummer Aufsässigkeit.
    »Nun«, sagte er aufgebracht und sah beiseite. »Dann müssen wir eben feststellen, wer sich an unseren beiden aufmerksamen Nachtwächtern vorbeigeschlichen und ihren Arbeitgeber umgebracht hat, was?«
    »Ja, Sir!«, sagten beide.
    Den Rest des Vormittags brachte Harper damit zu, nicht nur Wally und Pitt nach allen Einzelheiten ihrer Nachtwache zu befragen, sondern auch die Männer der Nachtschicht und viele der Angestellten, die inzwischen zur Arbeit gekommen waren.
    Pitt verschwieg ihm, dass er jemanden das Gelände hatte verlassen sehen. Zuerst geschah es mehr aus Instinkt als aus bestimmten Gründen. Noch vierundzwanzig Stunden vorher hätte er nicht geglaubt, er könne einen Polizeibeamten bewusst hintergehen, aber hier bewegte er sich in einer neuen Welt und merkte voll Staunen, dass er in den letzten Wochen Menschen wie Wally Edwards, Saul, Isaak Karansky und den anderen gewöhnlichen Männern und Frauen von Spitalfields ähnlich geworden war, die dem Gesetz nicht trauten, das sie nur selten schützte und dessen Vertretern es nicht gelungen war, den Mörder von Whitechapel zu fassen. Inzwischen schenkte er dem Glauben, was ihm Tellman über die Untersuchung der Fälle gesagt hatte. Er fand es nicht mehr undenkbar, dass Abberline und der stellvertretende Polizeipräsident Warren mit in die Verschwörung verwickelt waren, deren Ausläufer bis zum Thron selbst emporzureichen schienen.
    Dahinter aber standen andere Verschwörer als jene, die James Sissons ermordet und dafür gesorgt hatten, dass es so aussah wie ein Selbstmord, und die Lyndon Remus Informationen zuspielten, als deren Ergebnis letztlich der größte Skandal der Geschichte der englischen Monarchie enthüllt und damit die Regierung und die Krone selbst zu Fall gebracht würden.
    Jener zweiten Verschwörung gehörte Harper an, dessen war Pitt sicher, und daher brachte er es nicht fertig, ihm mehr zu sagen, als unbedingt nötig war.
    Außerdem passte, wie ihm bald aufging, die Beschreibung, die er von der nächtlichen Gestalt liefern konnte, ohne weiteres auf viele Männer, die er kannte: auf Saul, Isaak oder ein Dutzend andere der älteren Männer. Vielleicht wäre

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