Die Wanderapothekerin 1-6
sie im Nachtwind erbärmlich.
»Wir hätten meine Kleider mitnehmen sollen«, maulte sie nach einer Weile. »Mir ist verdammt kalt!«
»Verzeih! Daran habe ich nicht gedacht.« Klara blieb stehen, stellte ihr Reff auf den Boden und holte ihr zweites Hemd und ihren Mantel heraus, damit Martha nicht weiterhin nackt herumlaufen musste. Zum Glück war ihre Begleiterin es gewohnt, barfuß zu gehen, so dass sie wenigstens nicht dadurch behindert wurden.
»Sobald es hell ist, werde ich mir deine Verletzungen ansehen und Salbe auf sie schmieren«, sagte sie, als sie weitergingen.
Dabei wurde ihr klar, dass sie sich mit Marthas Rettung eine Verpflichtung aufgeladen hatte, die kaum zu erfüllen war. Sie brauchte Kleidung für das Mädchen und musste es so lange durchfüttern, bis es wieder auf eigenen Beinen stehen konnte. Dabei hatte sie so viel Geld wie möglich verdienen wollen, um mit ihrer Mutter und den Geschwistern gut durch den nächsten Winter zu kommen.
Klara ärgerte sich über ihre eigene Unbesonnenheit, befürchtete aber auch, der Verantwortung für Martha nicht gerecht werden zu können. Worauf habe ich mich da nur eingelassen?, fragte sie sich besorgt. Ich hätte zu Hause bleiben und Mutter helfen sollen, Kräuter zu ziehen und zu sammeln. Ein wenig Geld hätten wir auch damit verdient. Dann aber fiel ihr ein, dass ihr Onkel die Mutter dann ganz sicher davon überzeugt hätte, ihm den Schatz des Vaters auszuliefern. Allerdings würde das auch geschehen, wenn sie zu wenig Geld von ihrer Strecke nach Hause brachte.
Niemals!, schwor Klara sich und fragte sich gleichzeitig, was das für ein Schatz sein sollte. Die Mutter hatte ihr nicht gesagt, worum es sich handelte, und auch nicht, wo dieser verborgen lag. Ihren Worten zufolge hatte sie ihn selbst nie gesehen. Sehr groß kann er nicht sein, sagte sie sich, sonst würde es dem Onkel bessergehen. Doch Alois Schneidt musste immer noch als Wanderapotheker durch die Lande ziehen und war keiner der hohen Herrschaften, die vierspännig vorfahren konnten. Bei dem Gedanken lachte sie auf und verwirrte Martha damit.
»Was ist jetzt los?«, fragte diese.
»Nichts! Ich habe nur daran gedacht, dass Graf Benno bald eine deftige Enttäuschung erleben wird.«
Zu sich selbst sagte Klara, dass sie nicht an ihren Onkel und einen unbekannten Schatz denken durfte, denn sie hatte wahrlich andere Sorgen. Die größte davon war Graf Benno, der alles unternehmen würde, um Martha zu erwischen. Aber wenn er diese fand, schwebte auch sie selbst in höchster Gefahr.
13.
D ie Wanderung durch den nächtlichen Wald war hart und forderte Klara und Martha alle Kraft ab. Als die ersten Sonnenstrahlen über den östlichen Horizont aufstiegen, waren beide so erschöpft, dass sie sich am liebsten ins nächste Gebüsch verzogen hätten, um zu schlafen. Doch wenn sie das taten, gaben sie Graf Benno die Gelegenheit, sie noch am selben Tag einzufangen. Klara war jedoch bewusst, dass sie nicht pausenlos weiterlaufen konnten, denn sie zitterte in ihrer immer noch klammen Kleidung, und ihre Beine trugen sie kaum mehr. Und ihre Begleiterin sah so aus, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen.
»Wir legen eine Rast ein, damit ich mir deine Verletzungen ansehen kann. Deine Augen sehen ja schon ein wenig besser aus. Kannst du das andere auch schon öffnen?«
Martha versuchte es und schaffte es einen Spalt weit. »Ein wenig geht es«, sagte sie erleichtert.
»Setz dich dorthin!«, bat Klara und wies auf ein Moospolster hinter einem dichten Buschwerk.
Während Martha sich erleichtert fallen ließ, suchte Klara in ihrem Reff nach Arzneien, die sie verwenden konnte, und begann, ihre Begleiterin zu verarzten.
»Aua, das beißt!«, rief Martha, als Klara ihr eine Salbe auf das angeschwollene Gesicht strich.
»Das hört bald wieder auf«, antwortete Klara. »Du wirst merken, dass es hilft.«
»Hoffentlich!« Martha verzog mürrisch das Gesicht, hielt aber still, als Klara weitermachte. Schließlich musste sie auch den Mantel und das Hemd ausziehen und saß nackt im Moos.
Klara starrte erschrocken auf die Wunden und Abschürfungen, die sich über den gesamten Körper des Mädchens zogen. Diesmal jammerte Martha nicht, als ihre Verletzungen versorgt wurden, atmete aber hörbar auf, als die letzten Schrunden mit Salbe bedeckt waren.
»So schlimm war es doch gar nicht«, meinte Klara.
»Ich bin trotzdem froh, dass es vorbei ist. Wenn wir nur etwas zu essen hätten! Ich habe großen Hunger.«
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