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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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der Zähmung und Unterjochung geduldet, indem das im Lande herrschende System der zweiten Art ihnen vorschrieb, ihre Lehren seinen eigenen, mehr oder weniger eng, anzupassen. Bisweilen hat es sie nicht nur unterjocht, sondern sogar dienstbar gemacht und als Vorspann gebraucht; welches jedoch ein gefährliches Experiment ist; da jene Systeme der ersten Art, weil ihnen die Gewalt genommen ist, sich durch List helfen zu dürfen glauben und eine geheime Tücke nie ganz ablegen, die sich dann bisweilen unvermuthet hervorthut und schwer zu heilenden Schaden stiftet. Denn überdies wird ihre Gefährlichkeit dadurch erhöht, daß sämmtliche Realwissenschaften, sogar die unschuldigsten nicht ausgenommen, ihre heimlichen Alliirten gegen die Systeme der zweiten Art sind, und, ohne selbst mit diesen in offenem Kriege zu stehn, plötzlich und unerwartet, großen Schaden auf dem Gebiete derselben anrichten. Zudem ist der durch die erwähnte Dienstbarmachung bezweckte Versuch, einem System, welches ursprünglich seine Beglaubigung außerhalb hat, dazu noch eine von innen geben zu wollen, seiner Natur nach, mißlich: denn, wäre es einer solchen Beglaubigung fähig; so hätte es keiner äußern bedurft. Und überhaupt ist es stets ein Wagestück, einem fertigen Gebäude ein neues Fundament unterschieben zu wollen. Wie sollte überdies eine Religion noch des Suffragiums einer Philosophie bedürfen! Sie hat ja Alles auf ihrer Seite: Offenbarung, Urkunden, Wunder, Prophezeiungen, Schutz der Regierung, den höchsten Rang, wie er der Wahrheit gebührt, Beistimmung und Verehrung Aller, tausend Tempel, in denen sie verkündigt und geübt wird, geschworene Priesterschaaren, und, was mehr als Alles ist, das unschätzbare Vorrecht, ihre Lehren dem zarten Kindesalter einprägen zu dürfen, wodurch sie fast zu angeborenen Ideen werden. Um bei solchem Reichthum an Mitteln noch die Beistimmung armsäliger Philosophen zu verlangen, müßte sie habsüchtiger, oder, um den Widerspruch derselben zu besorgen, furchtsamer seyn, als mit einem guten Gewissen vereinbar scheint.
    An den oben aufgestellten Unterschied zwischen Metaphysik der ersten und der zweiten Art knüpft sich noch folgender. Ein System der ersten Art, also eine Philosophie, macht den Anspruch, und hat daher die Verpflichtung, in Allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio wahr zu seyn: denn sie wendet sich an das Denken und die Ueberzeugung. Eine Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio nimmermehr fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu allegorico wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen. Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien , nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, daß einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstande fühlbar zu machen, was ihm unbegreiflich wäre, nämlich daß die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß, verschwinden, und daß daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Akkommodationen zur menschlichen Fassungskraft sind. In diesem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther die Mysterien des Christenthums festgehalten zu haben, im Gegensatz des Pelagianismus, der Alles zur platten Verständlichkeit herabziehn möchte. Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch begreiflich, wie Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile est, quia ineptum est; – – certum est, quia impossibile. (De carne Christi, c. 5.) – Diese ihre allegorische Natur entzieht auch die Religionen den der Philosophie obliegenden Beweisen und überhaupt der Prüfung; statt deren sie Glauben verlangen, d.h. eine freiwillige Annahme, daß es sich so verhalte. Da sodann der Glaube das Handeln leitet, und die Allegorie allemal so gestellt ist, daß sie, in Hinsicht auf das Praktische, eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu proprio auch führen würde; so

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