Die Wildrose
und stand auf.
India folgte ihm nach unten. Er führte sie zum letzten Zimmer im Gang mit den psychisch kranken Männern. Sie blickte durch die offene Tür und sah einen jungen Mann auf dem Bett sitzen, dessen Körper grauenvoll zitterte. Er war bis aufs Skelett abgemagert, nur noch Haut und Knochen. Seine Augen waren geöffnet, aber der Blick war leer und tot.
India trat zu ihm, setzte sich neben ihn aufs Bett und untersuchte ihn kurz. Dabei redete sie mit ihm und versuchte, Kontakt zu ihm herzustellen, ihm eine Reaktion zu entlocken, ein vages Anzeichen des Erkennens. Aber ihre Anstrengungen waren vergebens. Er reagierte nicht. Auf gar nichts. Es war, als wäre sein gesamtes Innenleben – sein Herz, seine Seele, sein wacher Verstand und sein kluger Witz – aus ihm herausgerissen worden und nur eine leere Hülle zurückgeblieben.
»Er ist erst siebzehn, India«, sagte Sid. »Er ist doch erst siebzehn Jahre alt.«
Dann hörte India das unterdrückte Schluchzen ihres Mannes. Sie dachte daran, was sie als Nächstes tun müsste – Fiona und Joe anrufen und ihnen mitteilen, dass ihr geliebtes Kind bei ihr im Hospital war. Dass es verwundet war, nicht tot – aber so gut wie.
Und dann legte India, die seit Langem geübt darin war, sich das Leid ihrer Patienten nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.
60
S teh auf!«, schrie der Mann auf Türkisch. »Steh auf und geh, oder ich schlag dich, dass dir Hören und Sehen vergeht!«
Willa war auf die Seite in den Dreck gefallen. Ihre Beine funktionierten nicht. Nichts funktionierte. Ihr war schwindlig, sie fühlte sich desorientiert und konnte nicht klar sehen.
»Steh auf, hab ich gesagt!«, brüllte der Mann.
Sein Tritt in ihre Rippen ließ sie aufschreien, brachte sie aber nicht auf die Beine. Nichts vermochte das. Sie würde hier sterben. Im Dreck. In der mörderischen Hitze. Und es war ihr egal. Sie hatte die Unterhaltung zwischen den Beduinen und Türken mitbekommen und genug verstanden, um zu wissen, dass sie fünf Tage unterwegs gewesen waren. Nach fünf Tagen Wüstendurchquerung, die sie, über den Rücken eines Kamels geworfen, verbracht hatte, nach Nächten, in denen man sie wie ein Tier an einen Pfahl gebunden hatte, nach Hunger, Durst und unerträglichen Schmerzen wäre der Tod eine Gnade.
Ihre Kleider waren von all dem Schmutz, Blut und Erbrochenen völlig verkrustet. Und stanken nach Urin. Einer der Entführer wollte sie vor drei Nächten vergewaltigen, fühlte sich aber so abgestoßen von ihrem Zustand, dass er es angewidert aufgab.
Es zählte nicht mehr. Nichts zählte mehr. Bald würde alles vorbei sein. Sie schloss die Augen und wartete auf den Tod. Sie hatte keine Angst, sehnte ihn sogar herbei.
Aber die türkische Armee hatte andere Pläne.
Es gab noch mehr Geschrei, und Willa spürte, wie sie hochgerissen wurde. Sie öffnete die Augen und sah, wie ein Uniformierter den Beduinenkriegern, die sie gefangen hatten, eine kleine, schwere Lederbörse reichte. Dann hoben zwei Männer sie hoch und trugen sie in ein Steingebäude. Sie hatte den vagen Eindruck, dass sie sich in irgendeiner Garnisonsstadt befand. Aber in welcher? In Damaskus?
Ihre neuen Geiselnehmer zerrten und schleppten sie durch das Gebäude. Es ging durch einen Vorraum einen Flur entlang und eine Treppe hinab. Es war dunkel, und sie nahm immer wieder alles nur verschwommen wahr, aber sie war sich sicher, dass sie sich in einem Gefängnis befand.
Eine massive Holztür wurde geöffnet, und man warf sie in einen kleinen, düsteren Raum mit gestampftem Lehmboden. Einer der Männer ging weg und kam kurz darauf mit einem Krug Wasser zurück. Er schrie sie an. Sie dachte, er wollte, dass sie trank. Aber sie wollte nicht trinken. Sie hatte sich entschlossen zu sterben. Sie wehrte sich, versuchte, den Mann abzuschütteln, aber er war zu stark für sie. Er riss ihr den Mund auf, goss ihr Wasser hinein, dann hielt er ihn zu, damit sie es nicht ausspucken konnte. Nach einer Weile ließ er sie los, und sie sackte auf den Boden.
Ein Teller mit Essen wurde gebracht und auf den Boden gestellt. Dann wurde die Tür geschlossen und verriegelt. Es war vollkommen dunkel in der Zelle. Es gab kein Fenster, nicht den kleinsten Lichtstrahl.
Willa wusste nicht, wo sie war. Sie erinnerte sich nur, dass sie von Beduinen von der Absturzstelle entführt, viele Meilen transportiert und schließlich an die Türken verkauft worden war – die sie vermutlich
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