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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Wand aus Pflanzen verstellte mir jetzt den Blick auf den Horizont und breitete sich in alle Richtungen aus, und ich begriff, dass dieses Ereignis, das mir so harmlos erschienen war, in Wirklichkeit die endgültige Katastrophe war, dass diese Organismen aus dem Kosmos mit unserer Erde und unserer Atmosphäre eine Umwelt gefunden hatten, die ihnen unendlich zuträglich war, und sie vermehrten sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit, nahmen jeden freien Raum ein und zermalmten alles unter sich, blind,ohne Feindschaft, einfach durch die Kraft ihres Lebens- und Wachstumsdranges, und nichts vermochte sie aufzuhalten, in wenigen Tagen würde die Erde unter ihnen verschwunden sein, alles, was unser Leben, unsere Geschichte und unsere Kultur ausgemacht hatte, würde von diesen unersättlichen Pflanzen ausradiert sein, es war idiotisch, ein unglücklicher Zufall, aber es blieb uns einfach keine Zeit für die Suche nach einem Gegenmittel, die Menschheit würde ausgelöscht werden. Der funkelnde Meteoritenfall ging weiter, die Pflanzen, von tollem, entfesseltem Leben erfüllt, wuchsen zum Himmel empor, bestrebt, diese ganze, für sie so berauschende Atmosphäre auszufüllen. Und da, vielleicht aber auch später, aus diesem Traum erwachend, begriff ich, dass es stimmte, dass es das Gesetz alles Lebendigen ist, dass jeder Organismus nichts anderes will als leben und sich fortpflanzen, ohne böse Absicht, die Tuberkelbakterien, die die Lungen von Pergolesi und Purcell, von Kafka und Tschechow zerfressen haben, hegten keinerlei Feindschaft gegen ihre Opfer, sie wollten ihren Wirten nichts Böses, aber es war das Gesetz ihres Überlebens und ihrer Entwicklung, ganz so, wie wir die Bakterien mit Medikamenten bekämpfen, die tagtäglich entwickelt werden, ohne Hass, zu unserem eigenen Überleben, und so ist unser ganzes Leben auf dem Mord an anderen Geschöpfen erbaut, die genauso gerne leben würden, die Tiere, die wir essen, die Pflanzen, die Insekten, die wir vernichten, egal, ob sie wirklich gefährlich sind wie die Skorpione und die Läuse oder nur störend wie die Fliegen, diese Plage der Menschheit, wer hat noch keine Fliege getötet, deren lästiges Summen ihn bei seiner Lektüre störte, das ist nicht grausam, sondern das Gesetz unseres Lebens, wir sind eben stärker als die anderen Lebewesen und verfügen nach Belieben über ihr Leben und ihren Tod, die Kühe, die Hühner, die Kornähren sind auf der Erde, um uns zu dienen, da ist es normal, dass wir untereinander genauso verfahren, dass jede Menschengruppedie anderen vernichten will, die ihr die Erde, das Wasser, die Luft streitig machen, was für einen Grund gäbe es also, einen Juden besser zu behandeln als eine Kuh oder eine Tuberkelbakterie, wo wir es doch können, und wenn der Jude es könnte, täte er dasselbe mit uns oder mit anderen, um sein eigenes Leben zu garantieren, das ist das Gesetz aller Dinge, des ewigen Kriegs aller gegen alle, und ich weiß, dass dieser Gedanke nicht im Mindesten originell, dass er fast ein Allgemeinplatz des biologischen oder sozialen Darwinismus ist, aber in dieser Nacht, unter dem Einfluss meines Fiebers, traf mich die Wucht dieser Wahrheit wie nie zuvor und nie danach, ausgelöst durch den Traum, in dem die Menschheit der größeren Lebenskraft eines anderen Organismus erlag, und ich begriff natürlich, dass diese Regel für alle galt, dass andere, wenn sie sich als stärker erwiesen, mit uns so verfahren würden, wie wir mit unseren Mitgeschöpfen verfuhren, und dass gegen diese Kraft die schwachen Schutzmauern, die der Mensch in dem Versuch errichtet, das Zusammenleben zu regeln – Recht, Justiz, Moral, Ethik –, wenig ausrichten, dass der geringste Anflug von Furcht, ein etwas stärkerer Impuls sie beiseitefegt wie eine Mauer aus Stroh, dass aber auch die, die den ersten Schritt getan haben, nicht damit rechnen können, die anderen würden, wenn ihre Stunde gekommen ist, ihrerseits Recht und Gesetz achten, und ich hatte Angst, denn wir verloren den Krieg.
    Ich hatte meine Fenster offen gelassen, und allmählich breitete sich die Morgendämmerung in der Wohnung aus. Langsam brachten mir die Fieberschübe meinen Körper wieder zu Bewusstsein, das nasse Bettzeug, das ihn einengte. Ein heftiger Drang ließ mich vollends wach werden. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es schaffte, mich ins Badezimmer zu schleppen und mich auf die Kloschüssel zu ziehen, um mich zu entleeren, ein heftiger Durchfall, der nicht zu enden schien. Als er

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