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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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und spürte den salzigen Geschmack von Blut …
    In diesem Augenblick der höchsten Angst funkte irgendwo in McHenrys Gehirn eine Sicherung. Eine Brücke brach zusammen, über die sich sonst seine Gedanken und Eindrücke, Emotionen und Empfindungen in vorgeschriebenen, ständig gleichen Bahnen bewegt hatten.
    Mit einem Ruck trat in Richard McHenrys Dasein eine drastische Änderung ein.
     
    Er saß an der Theke einer kleinen Bar. Er kannte weder die Bar, noch die Leute, die neben ihm saßen. Er hatte einen Drink vor sich stehen. Verblüfft nahm er das Glas auf und kostete. Rye und Ginger, wie üblich. Er war so verblüfft, daß sein Denken eine Zeitlang aussetzte. Er saß einfach da und starrte vor sich hin.
    Er war auf dem Mond zerschellt, nicht wahr? Die Fähre hatte nicht mehr gebremst werden können. Fahrzeug und Leiche lagen irgendwo zwischen Lassell und Guericke, am Nordostrand des Mare Nubium. War dies das Reich der Toten? Die Bar, der hemdsärmelige Barkeeper? Das Fernsehgerät im Hintergrund? Die Leute rechts und links?
    Oder hatte er nur geträumt? Träumte er vielleicht jetzt noch? War der Testflug mit der Mondfähre nur eine Ausgeburt seiner überhitzten Phantasie gewesen? Vielleicht hatte sich auch ein Wunder ereignet. Eine unbekannte Macht hatte ihn kurz vor dem Tod aus der abstürzenden Fähre entfernt und hierher versetzt. Es sprach für Richard McHenrys verwirrten Geisteszustand, daß ausgerechnet diese Idee es war, die ihm am plausibelsten erschien. Das Schicksal hatte ihm ein Geschenk gemacht. Es hatte ihm das Leben geschenkt. Aber er durfte nicht darüber reden, durfte nicht einmal darüber nachdenken, sonst würde das Schicksal seiner überdrüssig und nahm ihm wieder ab, was es ihm in überwältigender Großzügigkeit hatte zukommen lassen. Er war wie der kleine Junge im Märchen, dem die Fee eine Kanne mit Milch geschenkt hatte, die niemals leer werden würde, solange er nicht darüber sprach, wie er in den Besitz der Kanne gekommen war. Ein paar Tage lang hielt er es aus, dann konnte er die neugierigen Fragen nicht mehr ertragen. Er erzählte die Geschichte, und als er das nächste Mal aus der Kanne schenken wollte, war sie leer.
    Er mußte den Unauffälligen spielen. Dazu gehörte zunächst, daß er in Erfahrung brachte, wo er sich eigentlich befand. Ein Blick auf den Kalender seitwärts des Fernsehgeräts trug ihm den ersten Schock ein. 13. September 1999. Der Tag, an dem der Testflug der Mondfähre stattfinden sollte. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigte auf ein Uhr vierundvierzig. Dem war nicht zu trauen, denn die Uhr an der anderen Seitenwand stand auf einundzwanzig Uhr fünfzehn. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu. Man zeigte einen Dokumentarfilm, mit dem er nichts anzufangen wußte. Erst eine Viertelstunde später gab es eine Programmunterbrechung. Der bunte Pfau der National Broadcasting Corporation erschien, und die Stimme eines unsichtbaren Sprechers sagte:
    »Hier ist Kanal fünf, WFLC, Florence, South Carolina. Es ist einundzwanzig Uhr dreißig.«
    Danach begann ein neues Programm. Richard McHenry interessierte sich nicht dafür. Er leerte seinen Drink und bezahlte. Der Barkeeper meinte:
    »Viel Glück auf die Reise. Sind Sie sicher, daß Sie’s heute nacht noch bis nach Florida schaffen wollen?«
    Ohne lange zu überlegen, winkte McHenry ab.
    »Na klar«, antwortete er zuversichtlich. »Ist doch nur ein paar hundert Meilen, und außerdem bin ich stocknüchtern.«
    Der Barkeeper grinste. McHenry wandte sich ab und ging hinaus. Feuchtwarme, tropische Luft schlug ihm entgegen. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß es mit der Frage des Barkeepers mehr auf sich hatte, als auf den ersten Blick zu sehen war. Er hatte gewußt, daß McHenry nach Florida wollte. Woher wußte er das? Richard hatte, bis es ans Bezahlen ging, kein Wort mit ihm gesprochen. Außerdem hatte er selbst keine Ahnung davon, welches sein Ziel war. Er erinnerte sich an die ersten Sekunden nach seinem – ja, wie sollte er es nennen? – Auftauchen, als er sich plötzlich auf einem Barhocker anstatt in der ölgefüllten Kabine der Mondfähre fand. Niemand war überrascht gewesen, ihn an der Bar sitzen zu sehen. Wenigstens erinnerte er sich nicht, daß irgend jemand Überraschung gezeigt hätte. Wie war das zu erklären? Doch nur so, daß die ganze Zeit über schon jemand an seiner Stelle gesessen hatte, ein zweiter Richard McHenry, der irgendwann zuvor wie ein ganz normaler Kunde die Bar betreten und sich

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