Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Vor ihm erhob sich ein himmelstürmendes Bauwerk aus grob behauenen Steinen. Wie die ganze Festung war es mehr ein Turm als ein Haus oder Palast.
Über einige Stufen gelangte er in das Gebäude. Das untere Geschoss bildete eine Wachstube, in der sechs Feuermenschen an Tischen saßen. Die meisten waren mit der Pflege ihrer Schwerter beschäftigt. Sie begrüßten Taramis mit mürrischen Blicken. Nach einem kurzen, für ihn weitgehend unverständlichen Wortwechsel im dagonisischen Dialekt erhoben sich vier Soldaten und übernahmen den Sklaven. Einer eilte los, um dem Herrn des Hauses die Ankunft des Besuchers anzukündigen. Bange blickte Taramis die steile Treppe hinauf, die den Weg in die oberen Stockwerke wies. Sie kam ihm wie eine senkrechte Wand vor. Er fühlte sich außerstande, sie zu erklimmen.
Ein derber Stoß in den Rücken erinnerte ihn daran, dass derlei Bedenken auf Zin irrelevant waren. Stolpernd überwand er die ersten Stufen, bis er sich gefangen hatte und sich ächzend weiterkämpfte.
Im nächsten Geschoss standen nur eine Bank und ein paar Stühle. Es handelte sich augenscheinlich um ein Wartezimmer für Gäste. Taramis wurde nicht die Gnade gewährt, sich auf den eisernen Möbeln auszuruhen. Obwohl ihm so schwindelig war, dass er wie ein Betrunkener wankte, schubsten ihn die Wachen weiter die Treppe hinauf. Es folgten ein Empfangsraum, eine Kammer mit Esstisch und Zinngeschirr in den Wandregalen sowie ein Gemach für einen Adjutanten, Diener oder Leibwächter.
»Keine Müdigkeit vorschützen«, knurrte der Wachmann.
Taramis bekam einen neuerlichen Stoß in den Rücken und fiel der Länge nach auf die Stufen, die zur sechsten Ebene des Turmhauses führten.
»Aufstehen! Schlafen kannst du später«, blaffte es hinter ihm.
Er schloss die Augen, seine Kiefer malmten. Rühr mich noch einmal an! , dachte er. Ich bohr dir die Glubschaugen aus dem Kopf, egal, was ihr danach mit mir anstellt . Wie zur Antwort hallte Marnas’ Stimme aus der Erinnerung herauf: Du bist Beriths Zukunft, mein Junge … Nein, er durfte sich nicht aufgeben. Er hatte kein Recht dazu. Ein Nebelwächter diente dem Wohl aller und nicht irgendwelchen kleinlichen Rachegelüsten.
Mühevoll stemmte er sich hoch und heftete den Blick auf die rauen Stufen der Treppe. Er sah sie nur verschwommen. Keuchend quälte er sich weiter hinauf. Jeder Schritt fiel ihm schwerer. Nach vieren begann sich alles um ihn herum zu drehen, für den fünften brauchte er seine ganze Kraft und beim sechsten brach er zusammen. Die Drohungen der wütenden Wachen verhallten, so schien es, in einem tiefen Schlund. Es war ihm einerlei. Sein Bewusstsein machte sich auf und davon.
Natsars Barteln zitterten. Er schäumte. Sein Zorn galt nicht dem besinnungslosen Zeridianer, er richtete sich gegen die Männer, die den Schwerverletzten ohne Sinn und Verstand in die Ohnmacht getrieben hatten. »Hatte ich Euch nicht ausdrücklich angewiesen, auf die Verfassung des Tempelwächters Rücksicht zu nehmen, Ulath?«, fuhr er den Kommandanten der Leibgarde an.
»Ich habe ihn erst in der Wachstube in Empfang …«
»Ihr hättet die Eskorte besser instruieren müssen«, schnitt ihm der Befehlshaber barsch das Wort ab. »Mag sein, dass ihr Krieger nur Verachtung für die Amphibienmenschen empfindet, aber vom Überleben dieses einen kann der Erfolg unserer ganzen Sache abhängen. Lasst einen Wagen kommen, der ihn später zurückbringt. Und jetzt geht mir aus den Augen, oder ich vergesse mich.«
Der muskulöse Hauptmann verbeugte sich tief und gab seinen drei Kameraden per Fingerzeig das Kommando zum Rückzug.
»Aber bleibt in der Nähe!«, fügte sein Herr hinzu. »Ich traue diesem Zeridianer nicht.«
»Wie Ihr befiehlt.« Ulath neigte das Haupt und scheuchte seine Männer die Treppe hinab.
Dem Befehlshaber der dagonisischen Armee sträubte sich der Stachelkragen, so sehr erzürnte ihn die Ignoranz der Soldaten. Er strafte sie mit Nichtachtung und ließ den Blick demonstrativ durch das Arbeitszimmer schweifen, bis sie sich entfernt hatten.
Für eine so bedeutende Persönlichkeit wie ihn war das Gemach geradezu spartanisch eingerichtet. Es maß wie alle Räume des Wohnturmes exakt sechzehn Fuß im Quadrat. Der einzige Luxus, den er sich gönnte, war die hölzerne Einrichtung und ein bequemer Diwan mit Nackenlehne – Ulath hatte den Gefangenen darauf abgeladen. Das übrige Mobiliar bestand aus einem grob gezimmerten Arbeitstisch, vier ungepolsterten Stühlen, zwei
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