Die zweite Haut
Kinder vorknöpfen, bekommen wir vielleicht Probleme mit Stillwater und seiner Frau.«
»Wie das?«
»Entweder Clocker oder ich können die Eltern in Schach halten, während der andere die Kinder in ein anderes Zimmer bringt. Aber die Mädchen ausziehen, ihnen Hände und Füße mit Draht fesseln – es wird zehn, fünfzehn Minuten erfordern, das richtig zu machen, genauso wie in Maryland. Aber selbst wenn einer von uns die Stillwaters mit der Waffe in Schach hält, werden sie nicht tatenlos zusehen. Sie werden sich beide auf mich oder Clocker stürzen, wer immer sie eben bewacht, und gemeinsam haben sie vielleicht Erfolg.«
»Das bezweifle ich«, sagte Spicer.
»Was macht Sie so sicher?«
»Die Leute haben heutzutage keinen Mumm mehr.«
»Stillwater hat Alfie besiegt.«
»Stimmt«, gab Spicer zu.
»Als sie sechzehn war, hat seine Frau ihre Eltern tot aufgefunden. Der Alte hatte die Mutter und dann sich selbst umgebracht …«
Spicer lächelte. »Paßt hübsch zu unserem Szenario.«
Daran hatte Oslett noch gar nicht gedacht. »Das ist richtig. Könnte auch erklären, warum Stillwater den Roman über den Fall in Maryland nicht schreiben konnte. Jedenfalls hat sie drei Monate später bei Gericht beantragt, sie von ihrem Vormund zu befreien und gesetzlich für volljährig erklären zu lassen.«
»Zähe Braut.«
»Das Gericht stimmte zu. Ihrem Antrag wurde stattgegeben.«
»Dann schießen Sie die Eltern zuerst über den Haufen«, riet Spicer und rutschte auf dem Sessel hin und her, als wäre sein Hintern eingeschlafen.
»Das werden wir tun«, stimmte Oslett zu.
Spicer sagte: »Ein Wahnsinn ist das.«
Einen Augenblick dachte Oslett, Spicer würde von ihren Plänen mit den Stillwaters sprechen. Aber er sprach von der Fernsehsendung, der er wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.
In der Talkshow hatte die Gastgeberin mit der toupierten Frisur sich von den Transvestiten verabschiedet und stellte eine neue Gruppe von Gästen vor. Vier Damen mit wütendem Aussehen saßen auf der Bühne. Alle trugen merkwürdige Hüte.
Als Oslett das Zimmer verließ, sah er Clocker aus dem Augenwinkel. Der Trekkie saß immer noch am Fenster und war in sein Buch versunken, aber Oslett wollte sich die gute Laune von ihm nicht verderben lassen.
Im Schlafzimmer setzte er sich wieder auf das Bett zu seinen Spielsachen, nahm die Brille ab und spielte die Morde in Gedanken immer wieder durch, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Draußen schwoll der Wind an. Es hörte sich an wie Wölfe.
49
Er hält an einer Tankstelle und fragt nach der Adresse, an die er sich noch von der Karte des Rolodex erinnern kann. Der junge Tankwart kann ihm helfen.
Um 14:10 fährt er durch das Viertel, in dem er offensichtlich aufgewachsen ist. Auf den großen Grundstücken stehen winterkahle Birken und eine Vielzahl von Nadelbäumen.
Das Haus seiner Mom und seines Dad liegt mitten im Block. Es ist ein bescheidenes, einstöckiges weißes Holzhaus mit grünen Fensterläden. Die vordere Veranda ist von einem schweren weißen Geländer mit grünem Handlauf und dekorativen gebogenen Querstreben an den Erkern umgeben.
Es sieht freundlich und anheimelnd aus. Wie ein Haus in einem alten Film. Jimmy Stewart könnte hier wohnen. Man sieht auf den ersten Blick, hier lebt eine nette Familie, anständige Menschen, die viel zu teilen, viel zu geben haben.
Er kann sich an überhaupt nichts in dem Block erinnern, am allerwenigsten an das Haus selbst, in dem er offenbar Kindheit und Jugend verbracht hat. Es könnte das Haus von vollkommen Fremden in einer fremden Stadt sein, das er bis zum heutigen Tag noch nie gesehen hat.
Wut erfüllt ihn, wenn er daran denkt, bis zu welchem Ausmaß er einer Gehirnwäsche unterzogen und um kostbare Erinnerungen gebracht worden ist. Die verlorenen Jahre quälen ihn. Die völlige Trennung von allen, die er liebt, ist so grausam und niederschmetternd, daß er den Tränen nahe ist.
Aber er unterdrückt seine Wut und seine Traurigkeit. Er kann sich keine Gefühle leisten, solange die Situation noch so prekär ist.
Was er dagegen in dem Viertel erkennt, ist ein Kleinbus auf der Straße gegenüber dem Haus seiner Eltern. Er hat diesen speziellen Bus noch nie gesehen, aber er kennt den Typ. Der Anblick versetzt ihn in Angst und Schrecken.
Es handelt sich um ein Freizeitfahrzeug. So rot wie ein kandierter Apfel. Ein verbreitertes Fahrgestell sorgt für mehr Platz im Inneren. Eine ovale Campingkuppel auf dem Dach.
Weitere Kostenlose Bücher