Die zweite Haut
Trotzdem wird die Zeit knapp.
Obwohl der Tag immer grauer wird, läßt er die Sonnenblende heruntergeklappt. Er trägt eine Baseballmütze tief in die Stirn gezogen und eine vliesgefütterte Collegejacke, die dem jungen Mann gehörten, der sonst für Murchison’s Flowers auslieferte. Mit Sonnenblende und Baseballmütze wird ihn kein Beobachter am Steuer identifizieren können.
Er fährt an den Bordstein und parkt direkt hinter dem Kleinbus, in dem er ein Beobachtungsteam vermutet. Er steigt aus seinem Fahrzeug aus und geht hastig zum Heck, damit sie keine Zeit haben, ihn zu beobachten.
Es gibt nur eine Tür am Heck. Die Scharniere müßten geölt werden; sie quietschen.
Der tote Blumenausfahrer liegt auf dem Boden der Ladefläche. Die Hände hat er auf der Brust gefaltet, und er ist von Blumen umgeben, als wäre er schon für die Totenwache zurechtgemacht.
Aus einer Plastiktüte neben dem Leichnam holt er das Eisbeil, das er aus einem Schaufenster mit teurer Bergsteigerausrüstung in dem Sportartikelgeschäft geholt hat. Das aus einem Guß gefertigte Edelstahlwerkzeug besitzt einen Gummigriff um den Stiel. Ein Ende des Kopfs stumpf und wie ein Schusterhammer geformt, das andere spitz und gefährlich. Er schiebt den Griff in den Bund seiner Jeans.
Dann holt er aus derselben Plastiktüte eine Spraydose Enteiser. Sprüht man die Chemikalie auf Eis, schmilzt dieses augenblicklich. Auf Autoscheiben, Schlösser und Wischblätter aufgetragen bevor sie vereisen, kann sie verhindern, daß es überhaupt zu Eisbildung kommt. Wenigstens verspricht das das Etikett. Eigentlich ist ihm gleichgültig, ob das Mittel seinen Zweck erfüllt oder nicht.
Er nimmt den Deckel von dem Druckbehälter und entblößt die Düse. Es gibt zwei Einstellungen: SPRÜHEN und FLIESSEN. Er stellt FLIESSEN ein und steckt den Behälter in eine Tasche seiner Collegejacke.
Zwischen den Beinen der Leiche steht ein riesiger Strauß mit Rosen, Nelken, zierlichem Schleierkraut und Farnblättern in einem blaßgrünen Container. Er zieht ihn aus dem Wagen, hält ihn mit beiden Händen fest und stößt die Tür mit einer Schulter zu.
Er trägt den Strauß vollkommen natürlich, aber doch so, daß er sein Gesicht vor den Beobachtern in dem roten Lieferwagen abschirmt, und geht zur Eingangstür des Hauses, vor dem beide Fahrzeuge geparkt sind. Die Blumen sind nicht für diese Adresse bestimmt. Er hofft, daß niemand zu Hause ist. Wenn jemand die Tür öffnen sollte, wird er so tun, als hätte er sich im Haus geirrt, damit er zur Straße zurückkehren und dabei den Strauß weiter vor das Gesicht halten kann.
Er hat Glück. Niemand reagiert auf das Läuten der Türglocke. Er läutet mehrmals und bringt durch Körpersprache Ungeduld zum Ausdruck.
Er wendet sich von der Tür ab. Er geht den Weg zur Straße hinunter.
Er sieht zwischen den Blumen und dem Grünschmuck hindurch, die er vor sich hält, und stellt fest, daß auch diese Seite des Kleinbusses mit zwei verspiegelten Fenstern im hinteren Teil versehen ist. Da die Straße menschenleer und verlassen ist, beobachten sie ihn mit Sicherheit, weil sie nichts Besseres zu tun haben.
Macht nichts. Er ist nur der frustrierte Auslieferer eines Floristen. Sie werden keinen Grund sehen, ihn zu fürchten. Es ist besser, daß sie ihn beobachten, ignorieren und ihre Aufmerksamkeit wieder auf das weiße Holzhaus richten.
Er geht an der Seite des Beobachtungsfahrzeugs vorbei. Aber statt auf dem rissigen und gesprungenen Bürgersteig zum Heck des Blumenwagens zu gehen, tritt er davor vom Bordstein herunter und hinter den roten »Fun Truck«.
An der Hecktür befindet sich ein kleineres verspiegeltes Bullauge, und für den Fall, daß sie ihn immer noch beobachten, schützt er einen Unfall vor. Er stolpert, läßt den Strauß fallen und tobt wütend, als die Vase auf dem Asphalt zerschellt. »Oh, Scheiße! Verflucht. Das hat mir gerade noch gefehlt!«
Noch im Fluchen bückt er sich unter das Bullauge und holt die Spraydose mit dem Enteiser aus der Jackentasche. Mit der linken Hand umklammert er den Türgriff.
Ist die Tür abgeschlossen, wird sein Versuch, sie aufzureißen, seine wahren Absichten verraten. Schafft er es nicht, hat er ernste Schwierigkeiten, weil sie vermutlich bewaffnet sein werden.
Aber sie haben keinen Grund, mit einem Angriff zu rechnen, daher geht er davon aus, daß die Tür nicht abgeschlossen ist. Er hat recht. Die Klinke läßt sich mühelos bewegen.
Er vergewissert sich nicht, ob jemand auf
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