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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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weißen Haus mit den grünen Fensterläden geht, streckt er die Zunge heraus und fängt einige der Schneeflocken damit auf. Wahrscheinlich hat er das auch als Junge gemacht, als er noch in dieser Straße wohnte und sich über den ersten Schnee des Winters freute.
    Er besitzt keine Erinnerungen an Schneemänner, Schneeballschlachten mit anderen Kindern oder Schlittenfahrten. Obwohl er das alles getan haben muß, ist es mit allem anderen gelöscht worden, und so wurde er um die bittersüße Freude nostalgischer Reminiszenzen gebracht.
    Ein Fußweg aus Natursteinplatten führt zwischen winterbraunen Rasenflächen hindurch.
    Er geht drei Stufen hoch und überquert die breite Veranda. An der Tür ist er gelähmt vor Angst. Seine Vergangenheit liegt auf der anderen Seite der Schwelle. Auch seine Zukunft. Seit seiner plötzlichen Bewußtwerdung und dem verzweifelten Versuch, seine Freiheit zu finden, ist er so weit gekommen. Dies könnte der bedeutendste Augenblick seines Feldzugs für Gerechtigkeit sein. Der Wendepunkt. Eltern können zuverlässige Verbündete in schweren Zeiten sein. Ihr Glaube. Ihr Vertrauen. Ihre unsterbliche Liebe. Er hat Angst, daß er so kurz vor seinem Triumph etwas tun könnte, das ihn ihrer Zuneigung beraubt, und so seine Chancen, sein Leben zurückzubekommen, zunichte macht. So viel steht auf dem Spiel, wenn er den Mut aufbringt zu läuten.
    Eingeschüchtert dreht er sich um, betrachtet die Straße und ist verzaubert von dem Anblick, denn es schneit viel stärker als noch vor wenigen Augenblicken. Die Flocken sind immer noch groß und flauschig, und es sind Millionen, die im milden Wind von Nordwesten tanzen. Sie sind so weiß, daß sie zu leuchten scheinen, jedes filigrane kristalline Gebilde von einem schwachen inneren Glanz erfüllt, und plötzlich ist der Tag nicht mehr grau. Die Welt ist so still und friedlich – zwei Eigenschaften, die er in seinem Leben selten erfahren hat –, daß sie überhaupt nicht mehr real zu sein scheint, als wäre sie durch einen Zauberspruch in eine der Glaskugeln versetzt worden, die eine kitschige Winterszene enthalten, in der es immerzu schneit, wenn sie regelmäßig geschüttelt wird.
    Der Gedanke ist verlockend. Ein Teil von ihm sehnt sich nach einer statischen Welt unter Glas, einem barmherzigen Gefängnis, zeitlos und unveränderlich, friedlich, sauber, ohne Angst und Kampf, ohne Verlust, wo einem das Herz nie schwer wird.
    Wunderschön, wunderschön, der fallende Schnee, der den Himmel noch vor dem Land darunter weiß färbt, ein Sprudeln in der Luft. Das ist so liebreizend, so rührend, daß ihm Tränen in die Augen treten.
    Er ist so überaus zartfühlend. Manchmal können die gewöhnlichsten Erlebnisse so bedeutend sein. Feinfühligkeit kann in einer verrohten Welt ein Fluch sein.
    Er nimmt allen Mut zusammen und dreht sich wieder zu dem Haus um. Er läutet, wartet nur ein paar Sekunden und läutet noch einmal.
    Seine Mutter macht die Tür auf.
    Er kann sich nicht an sie erinnern, weiß aber instinktiv, daß dies die Frau ist, die ihm das Leben geschenkt hat. Ihr Gesicht ist etwas plump, für ihr Alter vergleichsweise faltenlos und der Inbegriff der Güte. Seine Gesichtszüge sind ein Echo von ihren. Sie besitzt dieselben blauen Augen, die er im Spiegel gesehen hat, doch für ihn scheinen diese Augen Fenster in eine reinere Seele als seine eigene zu sein.
    »Marty!« sagt sie überrascht, mit einem herzlichen Lächeln, und breitet die Arme für ihn aus.
    Er ist gerührt, daß sie ihn gleich akzeptiert, tritt über die Schwelle, läßt sich umarmen und hält sich an ihr fest, als müßte er ertrinken, wenn er sie losläßt.
    »Liebling, was ist denn? Was hast du?« fragt sie.
    Da erst merkt er, daß er schluchzt. Er ist so gerührt von ihrer Liebe, so dankbar , daß er einen Platz gefunden hat, wo er hingehört und willkommen ist, daß er seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hat.
    Er drückt das Gesicht in das weiße Haar, das schwach nach Shampoo riecht. Sie scheint so warm zu sein, wärmer als andere Menschen, und er fragt sich, ob sich eine Mutter immer so anfühlt.
    Sie ruft seinen Vater: »Jim, Jim, komm schnell her!«
    Er versucht zu sprechen, will ihr sagen, daß er sie liebt, aber seine Stimme versagt, bevor er ein einziges Wort herausbringen kann.
    Dann betritt sein Vater die Diele und kommt auf sie zugeeilt.
    Die Tränen können nicht verhindern, daß er seinen Dad erkennt. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen ist noch größer als die mit

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