Die zweite Haut
seiner Mutter.
»Marty, mein Junge, was ist denn passiert?«
Er wechselt von einer Umarmung in die nächste und ist unendlich dankbar für die ausgebreiteten Arme seines Vaters; jetzt ist er nicht mehr einsam, jetzt lebt er in einer Welt unter Glas, wird geachtet und geliebt, geliebt.
»Wo ist Paige?« fragt seine Mutter und sieht zur offenen Tür in den verschneiten Tag hinaus. »Wo sind die Mädchen?«
»Wir haben im Restaurant zu Mittag gegessen«, sagt sein Vater, »und Janey Torreson hat gesagt, über dich wäre etwas in den Nachrichten gekommen, daß du auf jemand geschossen hättest, es aber möglicherweise ein Schwindel sei. Ergab überhaupt keinen Sinn.«
Er ist immer noch aufgewühlt und kann nicht antworten.
Sein Vater sagt: »Wir haben versucht, bei dir anzurufen, sobald wir hier zur Tür reingekommen sind, aber es war nur der Anrufbeantworter dran, daher habe ich eine Nachricht hinterlassen.«
Wieder fragt seine Mutter nach Paige, Charlotte und Emily.
Er muß sich zusammenreißen, denn der falsche Vater könnte jeden Moment hier eintreffen. »Mom, Dad, wir stecken in schlimmen Schwierigkeiten«, sagt er zu ihnen. »Ihr müßt uns helfen, bitte, mein Gott, ihr müßt uns helfen.«
Seine Mutter schlägt die Tür zu und sperrt den kalten Dezember aus, worauf sie ihn ins Wohnzimmer führen, einer auf jeder Seite, ihn mit ihrer Liebe umgeben, berühren, ihn mit besorgten und liebevollen Gesichtern ansehen. Er ist zu Hause. Endlich zu Hause.
Er kann sich an das Wohnzimmer ebensowenig erinnern wie an seine Mutter, seinen Vater oder den Schnee seiner Jugend. Der Boden aus Eichendielen wird halb von einem Perserteppich in Apricot und Grün bedeckt. Die Polstersessel sind mit einem dunklen blaugrünen Stoff bespannt, die Möbelstücke aus dunkelbraunem Kirschholz. Auf dem Kaminsims tickt zwischen zwei Vasen mit chinesischen Tempelszenen würdevoll eine Uhr.
Als sie ihn zum Sofa führt, sagt seine Mutter: »Liebling, wessen Jacke hast du da an?«
»Meine«, sagt er.
»Aber das ist eine neue Collegejacke.«
»Geht es Paige und den Kindern gut?« fragt Dad.
»Ja, sie sind okay, sie wurden nicht verletzt«, sagt er.
Seine Mutter betastet die Jacke und sagt: »Die hat die Schule erst vor zwei Jahren eingeführt.«
»Es ist meine«, wiederholt er. Er nimmt die Baseballmütze ab, bevor sie bemerkt, daß die ihm ein wenig zu groß ist.
An einer Wand hängen verschiedene Bilder von ihm, Paige, Charlotte und Emily in verschiedenen Altersstufen. Er wendet den Blick von dieser Galerie ab, da sie ihn zu sehr rührt und er Angst hat, wieder in Tränen auszubrechen.
Er muß sich zusammennehmen und Herr seiner Gefühle werden, damit er seinen Eltern das Wesentliche dieser komplexen und rätselhaften Situation vermitteln kann. Ihnen dreien bleibt wenig Zeit, einen Schlachtplan zu schmieden, bevor der Betrüger eintrifft.
Seine Mutter setzt sich neben ihn auf das Sofa. Sie nimmt seine rechte Hand zwischen ihre beiden und drückt sie sanft und ermutigend.
Links hockt sein Vater auf der Armlehne eines Sessels, beugt sich aufmerksam nach vorne und runzelt besorgt die Stirn.
Er muß ihnen so viel erzählen und weiß nicht, wo er anfangen soll. Er zögert. Einen Augenblick fürchtet er, daß ihm das richtige erste Wort nie einfallen, daß er stumm bleiben und eine psychische Blockade entwickeln wird, die schlimmer ist als die vor dem Computer in seinem Haus, als er versucht hat, den ersten Satz eines neuen Romans zu schreiben.
Aber als er plötzlich zu reden anfängt, sprudeln die Worte aus ihm heraus wie Wasser durch eine gebrochene Staumauer. »Ein Mann. Da ist ein Mann, er sieht aus wie ich, genau wie ich, nicht einmal ich kann einen Unterschied feststellen, und er hat mir mein Leben gestohlen. Paige und die Kinder halten ihn für mich, aber er ist nicht ich, ich weiß nicht, wer er ist oder wie er Paige täuschen kann. Er hat mir meine Erinnerungen geraubt und mir nichts gelassen, und ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht, wie er mir soviel stehlen und mich so leer zurücklassen konnte.«
Sein Vater macht einen erschrockenen Eindruck, und es könnte sein, daß ihn diese schrecklichen Enthüllungen tatsächlich erschrecken. Aber mit Dads Betroffenheit stimmt etwas nicht, eine feine Nuance, die sich einer Definition entzieht.
Moms Hände drücken seine rechte mehr unwillkürlich als bewußt. Er wagt nicht, sie anzusehen.
Er spricht hastig weiter, da er merkt, wie verwirrt sie sind, und er darauf brennt, es
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