Die zweite Haut
helfen, weiß Gott, aber wir können dir nicht helfen, wenn du dir nicht helfen läßt.«
Seine Mutter nimmt die Hände vom Gesicht; Tränen strömen über ihre Wangen, und sie sagt: »Bitte, Marty. Bitte.«
»Jeder macht einmal einen Fehler«, sagt sein Vater.
»Wenn es Drogen sind«, sagt seine Mutter unter Tränen und ebenso zu seinem Vater wie zu ihm, »damit können wir leben, das können wir akzeptieren, dagegen finden wir ein Heilmittel.«
Seine Welt unter Glas – die wunderschöne, friedliche, zeitlose Welt –, in der er die letzten kostbaren Minuten gelebt hat, seit seine Mutter ihn auf der Veranda in die Arme nahm, zerplatzt plötzlich. Ein häßlicher, gezackter Riß durchzieht die glatte Oberfläche des Kristalls. Die saubere, liebreizende Atmosphäre dieses flüchtigen Paradieses entweicht mit einem Wusch und läßt die giftige Luft der verhaßten Welt herein, in der das Leben ein unablässiger Kampf gegen Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Ablehnung ist.
»Tut mir das nicht an«, fleht er. »Laßt mich nicht im Stich. Wie könnt ihr mir das antun? Wie könnt ihr euch gegen mich wenden? Ich bin euer Kind.« Frustration wird zu Wut. »Euer einziges Kind.« Wut verwandelt sich in Haß. »Ich muß. Ich muß. Könnt ihr das nicht sehen?« Er bebt vor Wut. »Ist es euch vollkommen einerlei? Seid ihr herzlos? Wie könnt ihr so gemein zu mir sein, so grausam? Wie konntet ihr es dazu kommen lassen?«
50
In Bishop machten sie gerade lange genug an einer Tankstelle Rast, um Schneeketten zu kaufen, die gegen Aufpreis gleich auf die Reifen des BMW montiert wurden. Die Highway Patrol von Kalifornien empfahl, daß alle Fahrzeuge, die in die Sierra Nevada unterwegs waren, mit Ketten ausgerüstet sein sollten, hatte es aber noch nicht angeordnet.
Route 395 wurde westlich von Bishop zu einem zweigeteilten Highway, und trotz der erheblich zunehmenden Steigung schafften sie eine gute Zeit vorbei an Rovanna und Crowley Lake, vorbei an McGee Creek und Convict Lake, und etwas südlich von Casa Diablo Hot Springs verließen sie die 395 und wechselten auf die Route 203.
Casa Diablo. Haus des Teufels.
Bisher hatte sich Marty noch nie Gedanken über die Bedeutung dieses Namens gemacht.
Nicht alles war ein Omen.
Bevor sie Mammoth Lakes erreichten, fing es an zu schneien.
Die großen Flocken waren fast so locker gewoben wie billige Spitze. Und sie fielen so dicht, daß man den Eindruck hatte, als würde mehr als die Hälfte des Luftvolumens zwischen Land und Himmel von Schnee beansprucht werden. Der Schnee blieb sofort liegen und überzog die Landschaft mit einer hermelinartigen Decke.
Paige fuhr ohne anzuhalten durch Mammoth Lakes und bog nach Süden Richtung Lake Mary ab. Charlotte und Emily auf dem Rücksitz waren so fasziniert vom Schneefall, daß sie zumindest im Augenblick keine Ablenkung brauchten.
Östlich der Berge war der Himmel grauschwarz und aufgewühlt gewesen. Hier, im winterkalten Herzen der Sierra, glich er einem von milchiggrauem Star überzogenen Zyklopenauge.
Die Ausfahrt von der Route 203 wurde von einer Gruppe Kiefern markiert, von denen die höchste noch Spuren eines Jahrzehnte zurückliegenden Blitzschlags trug. Der Blitz hatte die Kiefer nicht nur beschädigt, sondern auch zu einem mutierten Wachstumsmuster geführt, so daß sie nun wie ein knorriger und böser Turm aussah.
Die Schneeflocken waren kleiner als vorher, fielen dichter und wurden vom Nordwestwind verweht. Nach einem spielerischen Auftakt machte der Sturm ernst.
Die aufwärts führende Straße, die durch Hochwiesen und Wälder verlief – immer mehr von letzteren und weniger von ersteren –, passierte schließlich ein eingezäuntes Gelände mit mehr als hundert Morgen zur Rechten. Dieses Land war vor elf Jahren von der Prophetischen Kirche der Verklärung gekauft worden, einer Sekte, die den Lehren des Reverend Jonathan Caine folgte und dem Glauben anhing, daß die wahren Gläubigen bald zum Himmel fahren und nur die Ungetauften und wahrhaft Bösen zurückbleiben würden, die tausend Jahre grausame Kriege und die Hölle auf Erden durchmachen mußten, bis das Jüngste Gericht kam.
Wie sich herausstellte, war Caine ein Kinderschänder gewesen, der alles auf Video aufzeichnen ließ, was er mit den Kindern seiner Anhänger anstellte. Er mußte ins Gefängnis, seine zweitausend Gefolgsleute waren von den Winden der Desillusionierung und des Verrats verweht worden, und um das Grundstück mit sämtlichen Gebäuden wurde seit fast
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