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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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wie wahrscheinlich viele andere Kinder in derselben Situation. Sie waren schon immer echte Kämpfer gewesen, jede auf ihre Art.
    Marty war nicht sicher, was er seinen Töchtern sagen sollte. Normalerweise waren er und Paige nicht um Ratschläge verlegen, die ihnen helfen sollten, die Probleme des Lebens zu meistern. Paige bezeichnete sie stets scherzhaft als die »Wunderbare Stillwater-Elternmaschine«, ein Ausdruck, in dem ebensoviel Spott wie aufrichtiger Stolz mitschwang. Aber dieses Mal fehlten ihm die Worte, weil er sich bemühte, sie nie anzulügen, sie auch jetzt nicht anlügen wollte, aber nicht wagte, ihnen seine hoffnungslose Einschätzung der Lage mitzuteilen.
    »Kinder, kommt mal her und tut mir einen Gefallen«, sagte er.
    Sie brannten darauf, sich zu beschäftigen, und kamen sofort vom Sofa zu ihm ans Fenster.
    »Bleibt hier stehen«, sagte er, »und beobachtet die Asphaltstraße. Wenn ein Auto in die Einfahrt biegt, langsam vorbeifährt oder sonst etwas Verdächtiges tut, schlagt ihr Alarm. Kapiert?«
    Sie nickten ernst.
    Zu Paige sagte Marty: »Überprüfen wir die anderen Fenster, ob sie geschlossen sind, und ziehen die Vorhänge zu.«
    Wenn es dem Anderen gelang, sich unbemerkt an die Blockhütte anzuschleichen, sollte der Mistkerl sie wenigstens nicht durch ein Fenster beobachten oder beschießen können.
    Jedes Fenster, das er überprüfte, war verriegelt.
    Als er in der Küche das Fenster mit Blick auf den tiefen Wald hinter der Blockhütte zuzog, fiel ihm ein, daß seine Mutter die Vorhänge selbst mit ihrer Nähmaschine im Gästezimmer des Hauses in Mammoth Lakes gemacht hatte. Er sah sie vor seinem geistigen Auge, wie sie an der Singer saß, Fuß auf dem Pedal, und die auf und ab sausende Nadel nicht aus den Augen ließ.
    Seine Brust verkrampfte sich vor Schmerz. Er holte tief Luft, stieß sie erschauernd aus und versuchte, nicht nur den Schmerz zu verdrängen, sondern auch die Erinnerung, die ihn ausgelöst hatte.
    Wenn sie überlebten, würde er später noch Zeit haben, um seine Mutter zu trauern.
    Im Augenblick durfte er nur an Paige und die Kinder denken. Seine Mutter war tot. Sie lebten. Die nüchterne Wahrheit: Trauer war ein Luxus.
    Er holte Paige im zweiten Schlafzimmer ein, als sie gerade die Vorhänge zugezogen hatte. Sie hatte eine Nachttischlampe eingeschaltet, damit sie nicht im Dunkeln herumtappen mußte, wenn sie die Vorhänge geschlossen hatte, und die wollte sie gerade löschen.
    »Laß sie an«, sagte Marty. »Durch den Sturm werden wir eine lange und frühe Dämmerung bekommen. Er kann wahrscheinlich von außen sehen, in welchen Zimmern Licht brennt und in welchen nicht. Warum sollten wir es ihm leichter machen und zeigen, wo wir sind.«
    Sie schwieg. Betrachtete den bernsteinfarbenen Lampenschirm. Als könnte sie ihre Zukunft aus den vagen Mustern des beleuchteten Stoffs deuten.
    Schließlich sah sie ihn an. »Wieviel Zeit haben wir?«
    »Vielleicht zehn Minuten, vielleicht zwei Stunden. Kommt ganz auf ihn an.«
    »Was wird passieren, Marty?«
    Nun war es an ihm, zu schweigen. Er wollte auch sie nicht belügen.
    Als Marty schließlich sprach, war er von seinen eigenen Worten überrascht, weil sie aus den Tiefen des Unterbewußtseins kamen, ernst gemeint waren und größeren Optimismus erkennen ließen, als er bewußt empfand. »Wir werden den Wichser erledigen.« Optimismus oder fatale Selbsttäuschung.
    Sie kam um das Fußende des Betts herum zu ihm, und sie umarmten sich. In seinen Armen fühlte sie sich so wohl. Einen Augenblick schien die Welt nicht mehr vollkommen verrückt geworden zu sein.
    »Wir wissen immer noch nicht, wer er ist, was er ist oder woher er kommt«, sagte sie.
    »Und das werden wir vielleicht nie erfahren. Selbst wenn wir den Dreckskerl töten, werden wir vielleicht nie wissen, was das alles zu bedeuten hatte.«
    »Wenn wir es nie herausfinden, können wir die Trümmer nicht aufheben.«
    »Nein.«
    Sie legte den Kopf an seine Schulter und küßte zärtlich den entblößten Halbschatten seiner Würgemale. »Wir können uns nie wieder sicher fühlen.«
    »In unserem alten Leben nicht. Aber solange wir vier zusammen sind«, sagte er, »kann ich alles zurücklassen.«
    »Das Haus und alles, was darin ist, meinen Beruf, deinen …«
    »Das alles ist nicht so wichtig.«
    »Ein neues Leben, neue Namen … was für eine Zukunft werden die Mädchen haben?«
    »Die beste, die wir ihnen geben können. Sie hatten nie irgendwelche Garantien. Die gibt es im Leben

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