Die zweite Haut
Bände auf dem Bücherregal betrachtet, macht er eine Entdeckung, die ihn zumindest in einem gewissen Rahmen begreifen läßt, weshalb er von den grauen, herbstlichen Ebenen des Mittelwestens ins sonnige Kalifornien nach Thanksgiving gezogen wurde.
Einige wenige Regalbretter enthalten Bücher – Kriminalromane – von nur einem Autor: Martin Stillwater. Derselbe Nachname, den er draußen auf dem Briefkasten gesehen hat.
Er stellt das silbergerahmte Porträt beiseite und zieht einige dieser Romane aus den Regalen, wobei er überrascht feststellt, daß ihm manche Schutzumschläge bekannt vorkommen, weil die Originalgemälde an der Bilderwand hängen, die ihn so sehr fasziniert hat. Jeder Titel ist in verschiedenen Übersetzungen vorhanden: Französisch, Deutsch, Italienisch, Holländisch, Schwedisch, Dänisch, Japanisch und einige andere Sprachen.
Aber nichts ist so interessant wie das Foto des Autors auf der Rückseite jedes Schutzumschlags. Er studiert sie lange Zeit und streicht Stillwaters Gesichtszüge mit dem Finger nach.
Fasziniert überfliegt er die Klappentexte. Dann liest er die erste Seite eines Buches, die erste eines anderen, dann noch eine.
Er schlägt eine Widmungsseite vorne in einem der Bücher auf und liest, was dort gedruckt steht: Dieses Buch ist meiner Mutter und meinem Vater gewidmet, Jim und Alice Stillwater, die mich gelehrt haben, ein ehrlicher Mann zu sein – und die keine Schuld trifft, daß ich denken kann wie ein Krimineller.
Seine Mutter und sein Vater. Er liest ihre Namen voller Staunen. Er besitzt keine Erinnerungen an sie, kann sich nicht an ihre Gesichter erinnern oder sich vorstellen, wo sie leben.
Er geht zum Schreibtisch zurück und blättert das Adreßbuch durch. Er findet Jim und Alice Stillwater in Mammoth Lake, Kalifornien. Die Anschrift sagt ihm nichts, und er fragt sich, ob dies das Haus ist, in dem er aufgewachsen ist.
Er scheint seine Eltern zu lieben. Immerhin hat er ihnen ein Buch gewidmet. Und doch sind sie Fremde für ihn. So vieles hat er verloren.
Er geht zum Bücherregal zurück. Er schlägt die amerikanischen oder britischen Ausgaben jedes Titels auf, um die Widmungen zu lesen, und findet schließlich: Für Paige, meine perfekte Frau, nach der meine besten weiblichen Figuren modelliert sind – ausgenommen natürlich die mörderischen Psychopathinnen.
Und zwei Bände weiter: Für meine Töchter, Charlotte und Emily, in der Hoffnung, daß sie dieses Buch eines Tages lesen, wenn sie erwachsen sind, und wissen, daß der Daddy in dieser Geschichte mit meinem Herzen spricht, wenn er so überzeugt und gefühlvoll von seinen eigenen kleinen Töchtern erzählt.
Er stellt die Bücher beiseite und greift wieder nach dem Foto, das er mit etwas wie Ehrfurcht in beiden Händen hält.
Die attraktive Blondine muß Paige sein. Eine perfekte Frau.
Die beiden Mädchen sind Charlotte und Emily, aber natürlich kann er nicht wissen, wer welche ist. Sie machen einen süßen und folgsamen Eindruck.
Paige, Charlotte, Emily.
Endlich hat er sein Leben gefunden. Hierher gehört er. Dies ist sein Zuhause. Die Zukunft beginnt jetzt.
Paige, Charlotte, Emily.
Dies ist die Familie, zu der ihn das Schicksal geführt hat.
»Ich muß Marty Stillwater werden«, sagt er und freut sich, daß er endlich seinen eigenen warmen Platz in dieser kalten und einsamen Welt gefunden hat.
ZWEI
17
Dr. Paul Guthridges Praxis besaß drei Untersuchungszimmer. Im Laufe der Jahre war Marty schon in allen gewesen. Sie waren identisch und nicht von Behandlungszimmern anderer Ärzte zwischen Maine und Texas zu unterscheiden: hellblaue Wände, Edelstahlarmaturen, ansonsten alles weiß-in-weiß; Waschbecken, Hocker, ein Sehtestplakat. Der Raum besaß soviel Charme wie eine Leichenhalle – nur roch er besser.
Marty saß auf dem Rand eines gepolsterten Untersuchungstischs, der mit einer Endlosrolle Papier abgedeckt war. Er trug kein Hemd, und es war kühl in dem Raum. Obwohl er die Hosen noch anhatte, fühlte er sich nackt und verwundbar. Er stellte sich vor, daß er einen katatonischen Anfall bekam, weder sprechen noch sich bewegen, noch blinzeln konnte, worauf der Arzt ihn für tot halten, ganz ausziehen, ihm eine Kennkarte an den großen Zeh binden, ihm die Augen zukleben und ihn zur weiteren Untersuchung zur Gerichtsmedizin schicken würde.
Er verdiente zwar seinen Lebensunterhalt damit, aber die Phantasie des Kriminalschriftstellers machte ihm die ständige Gegenwart des Todes bewußter als den
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