Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
meisten Menschen. Jeder Hund war ein potentieller Überträger von Tollwut. Jeder fremde Wagen, der durch das Viertel fuhr, wurde von einem sexuellen Triebtäter gesteuert, der jedes Kind entführte und ermordete, das länger als drei Sekunden unbeaufsichtigt blieb. Jede Dose Suppe in der Küche war eine Lebensmittelvergiftung, die nur darauf wartete, zum Einsatz zu kommen.
    Vor Ärzten hatte er keine besondere Angst – aber er fühlte sich in ihrer Gegenwart auch nicht gerade wohl.
    Ihn beunruhigte die ganze Vorstellung von der medizinischen Wissenschaft, aber nicht, weil er ihr mißtraute, sondern weil ihn schon ihre Existenz irrationalerweise daran erinnerte, daß das Leben vergänglich und der Tod unvermeidlich waren. Daran mußte er nicht erinnert werden. Er verfügte bereits über ein akutes Wissen um den Tod und verbrachte sein ganzes Leben damit, mit diesem Wissen fertig zu werden.
    Marty, der fest entschlossen war, nicht hysterisch zu klingen, wenn er Guthridge seine Symptome schilderte, berichtete die Ereignisse der vergangenen drei Tage mit einer leisen, nüchternen Stimme. Er bemühte sich, auf sachliche statt emotionale Ausdrücke zurückzugreifen, begann mit der siebenminütigen Fugue in seinem Arbeitszimmer und endete mit dem unvermittelten Anfall von Panik, den er verspürte, als er das Haus verließ, um zur Praxis des Arztes zu fahren.
    Guthridge war ein ausgezeichneter Internist – teilweise weil er ein guter Zuhörer war –, sah aber nicht danach aus. Er war fünfundvierzig, wirkte aber zehn Jahre jünger und hatte jungenhafte Manieren. Heute trug er Tennisschuhe, weite Hosen und ein Mickey-Mouse-Sweatshirt. Im Sommer bevorzugte er bunte Hawaiihemden. Wenn er, was selten genug vorkam, den traditionellen weißen Kittel über Hosen mit Bügelfalten trug, sagte er stets, daß er »Doktor spielte« oder »vom Bekleidungskomitee der amerikanischen Ärztekammer auf strenge Bewährung gesetzt« oder »plötzlich von der göttlichen Verantwortung meines Berufes überwältigt« worden sei.
    Paige hielt Guthridge für einen außergewöhnlichen Arzt, und die Mädchen behandelten ihn mit der speziellen Hingabe, die normalerweise einem Lieblingsonkel vorbehalten bleibt.
    Marty mochte ihn auch.
    Er vermutete, daß das exzentrische Gehabe des Arztes nicht ausschließlich dazu diente, Patienten zu amüsieren und ihnen die Nervosität zu nehmen. Guthridge schien, wie Marty auch, allein an der Tatsache, daß es den Tod gab, moralisch Anstoß zu nehmen. Als junger Mann hatte er sich vielleicht sogar zur Medizin hingezogen gefühlt, weil er den Arzt als Ritter sah, der gegen Drachen in Gestalt von Krankheiten und Seuchen kämpfte. Junge Ritter sind stets der Überzeugung, daß edle Absichten, Geschick und Glauben über das Böse triumphieren. Alte Ritter wissen es besser – und benutzen manchmal den Humor als Waffe, um Verbitterung und Verzweiflung zu bekämpfen. Guthridges Latschen und das Mickey-Mouse-Sweatshirt dienten vielleicht dazu, seine Patienten zu entspannen, aber sie waren gleichzeitig sein Panzer gegen die harte Realität von Leben und Tod.
    »Ein Panikanfall? Ausgerechnet Sie haben einen Panikanfall?« fragte Paul Guthridge zweifelnd.
    Marty sagte: »Hyperventilieren, Herzklopfen, mir war, als müßte ich explodieren – ich finde schon, daß sich das nach einem Panikanfall anhört.«
    »Klingt mehr nach Sex.«
    Marty lächelte. »Glauben Sie mir, Sex war es nicht.«
    »Da könnten Sie recht haben«, sagte Guthridge seufzend. »Es ist so lange her, ich weiß nicht mehr genau, wie Sex eigentlich ist. Glauben Sie mir, Marty, dies ist eine ganz schlechte Zeit, Junggeselle zu sein, es gibt so viele schlimme Krankheiten da draußen. Man lernt ein Mädchen kennen, geht mit ihr aus, gibt ihr einen züchtigen Kuß auf die Wange, wenn man sie nach Hause gebracht hat – und dann fährt man heim und wartet ab, ob einem die Lippen faulen und abfallen.«
    »Bezaubernde Vorstellung.«
    »Realistisch, hm? Vielleicht hätte ich Schriftsteller werden sollen.« Er untersuchte Martys linkes Auge mit einem Augenspiegel. »Hatten Sie ungewöhnlich starke Kopfschmerzen?«
    »Einmal am Wochenende. Aber nichts Ungewöhnliches.«
    »Wiederholte Schwindelanfälle?«
    »Nein.«
    »Vorübergehende Blindheit, deutliche Einengung der peripheren Sehfähigkeit?«
    »Nichts dergleichen.«
    Guthridge widmete Martys rechtem Auge seine Aufmerksamkeit und sagte: »Was das Schreiben angeht – das haben auch schon andere Ärzte getan,

Weitere Kostenlose Bücher