Die zweite Haut
machen sollten. Versuchen Sie, sich zu entspannen, Marty. Nächste Woche wissen wir, was los ist.« Falls erforderlich, konnte Guthridge ein so beruhigendes Gebaren – und ein ebenso tröstliches Verhalten am Krankenbett – an den Tag legen, wie jede grauhaarige medizinische Eminenz im dreiteiligen Anzug. Er nahm Martys Hemd von einem Haken an der Tür und gab es ihm. Das schwache Lachen seiner Augen verriet einen Stimmungsumschwung. »Wenn ich einen Termin im Krankenhaus für Sie vereinbare, was für einen Namen des Patienten soll ich angeben? Martin Stillwater oder Martin Murder?«
18
Er erforscht sein Haus. Er brennt darauf, alles über seine neue Familie zu erfahren.
Da ihm der Gedanke, Vater zu sein, besonders verlockend erscheint, fängt er im Zimmer der Mädchen an. Eine Zeitlang bleibt er einfach in der Tür stehen und betrachtet die beiden so unterschiedlichen Hälften des Raums.
Er fragt sich, welche seiner jungen Töchter die quirlige ist, die ihr Zimmer mit Postern bunter Heißluftballons und springender Tänzerinnen schmückt, die eine Rennmaus und andere Haustiere in Drahtkäfigen und Glasterrarien hält. Er hält das Foto seiner Frau und seiner Kinder noch in der Hand, aber die lächelnden Gesichter offenbaren nichts von den Persönlichkeiten.
Die zweite Tochter ist offenbar ruhiger, da sie beschauliche Landschaften an den Wänden bevorzugt. Ihr Bett ist ordentlich gemacht, die Kissen fein säuberlich drapiert. Ihre Märchenbücher hat sie ordentlich aufgestellt, der Schreibtisch in der Ecke ist aufgeräumt.
Als er die Spiegeltür des Schranks öffnet, sieht er eine ähnliche Unterscheidung in den aufgehängten Kleidungsstücken. Die links sind nach Art und Farbe sortiert. Die rechts lassen keine spezielle Ordnung erkennen, sie hängen schief auf den Bügeln und in einer Art und Weise aneinandergequetscht, die Falten praktisch garantiert.
Da die kleineren Jeans und Kleider sich auf der linken Seite des Schranks befinden, kann er davon ausgehen, daß das ordentliche, ruhige Mädchen die jüngere der beiden ist. Er hebt das Foto hoch und betrachtet sie. Die Elfe. So niedlich. Er weiß immer noch nicht, ob sie Charlotte oder Emily ist.
Er geht zum Schreibtisch auf der Seite des Zimmers, die der älteren Tochter gehört, und betrachtet das Durcheinander: Zeitschriften, Schulbücher, ein gelbes Haarband, eine Schmetterlingsmütze, ein paar verstreute Streifen Black-Jack-Kaugummi, Buntstifte, ein verschlungenes Paar rosa Kniestrümpfe, eine leere Coladose, Münzen und ein Gameboy.
Er schlägt eines der Schulbücher auf, dann noch eines. In beide ist derselbe Name mit Bleistift eingetragen: Charlotte Stillwater.
Das ältere, disziplinlosere Mädchen ist Charlotte. Das jüngere Mädchen, das seine Sachen ordentlich wegräumt, ist Emily.
Wieder betrachtet er ihre Gesichter auf dem Foto.
Charlotte ist hübsch, ihr Lächeln bezaubernd. Aber wenn er mit einem seiner beiden Kinder Ärger bekommen wird, dann mit ihr.
Er wird keine Unordnung in seinem Haus dulden. Alles muß perfekt sein. Ordentlich und sauber und glücklich.
In einsamen Hotelzimmern in fremden Städten brannte er, wenn er wach in der Dunkelheit lag, vor Verlangen und wußte nicht, was dieses Verlangen befriedigen könnte. Jetzt weiß er, wenn er Martin Stillwater wird – Vater dieser Kinder, Ehemann dieser Frau –, dann ist dies das Schicksal, welches die schreckliche Leere füllen und ihm endlich Zufriedenheit verschaffen wird. Er ist der Macht dankbar, die ihn hierher geführt hat, und er ist fest entschlossen, seine Verantwortung gegenüber seiner Frau, seinen Kindern und der Gesellschaft zu erfüllen. Er wünscht sich eine ideale Familie, wie er sie in bestimmten Lieblingsfilmen gesehen hat; er möchte gütig sein wie Jimmy Stewart in Ist das Leben nicht schön? und klug wie Gregory Peck in Wer die Nachtigall stört und bewundert wie beide, und er wird alles Erforderliche tun, um ein liebendes und harmonisches und ordentliches Zuhause zu gewährleisten.
Er hat auch Böse Saat gesehen und weiß, daß manche Kinder ein Zuhause und jegliche Hoffnung auf Harmonie zunichte machen können, weil das Potential, Böses zu tun, in ihnen brennt. Charlottes Schlampigkeit und ihre seltsame Menagerie beweisen, daß sie zu Ungehorsam und möglicherweise Gewalt fähig ist.
Wenn Schlangen in Filmen auftauchen, dann sind sie immer Symbole des Bösen, gefährlich für die Unschuldigen; demzufolge ist die Schlange in dem Terrarium ein
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