Die zweite Haut
beängstigender Beweis für die Verderbtheit des Kindes und die Notwendigkeit einer strengen Hand. Sie hält auch noch andere Reptilien, Nagetiere und einen häßlichen schwarzen Käfer in einem Glas – die Filme haben ihn gelehrt, das alles mit den Mächten der Finsternis in Verbindung zu bringen.
Er studiert das Foto erneut und staunt, wie unschuldig Charlotte aussieht.
Aber er muß an das Mädchen in Böse Saat denken. Sie schien ein Engel zu sein und war doch durch und durch böse.
Martin Stillwater zu sein ist vielleicht doch nicht so einfach, wie er zuerst gedacht hat. Charlotte könnte ein ganz schönes Problem werden.
Glücklicherweise hat er Lean On Me gesehen, wo Morgan Freeman die Rektorin einer High School spielt, die Ordnung in eine von Anarchie beherrschte Schule bringt, und er hat Der Prinzipal mit James Belushi gesehen, daher weiß er, daß auch böse Kinder im Grunde genommen Disziplin wollen. Sie werden angemessen reagieren, wenn Erwachsene den Mumm aufbringen und auf Anstandsregeln bestehen.
Wenn Charlotte störrisch und ungehorsam ist, wird er sie bestrafen, bis sie lernt, ein braves Mädchen zu sein. Er wird sie nicht im Stich lassen. Anfangs wird sie ihn hassen, weil er ihr Privilegien streicht, weil er ihr Hausarrest auferlegt, weil er ihr weh tun wird, sollte es erforderlich sein, aber mit der Zeit wird sie einsehen, daß er nur ihr Bestes will, und sie wird lernen, ihn zu lieben, und verstehen, wie weise er ist.
Er kann den Augenblick des Triumphs richtig vor sich sehen, wenn nach vielen Anstrengungen ihre Rehabilitierung gesichert ist. Ihre Erkenntnis, daß sie unrecht hatte und er ein guter Vater gewesen ist, wird in einer rührenden Szene gipfeln. Sie werden beide weinen. Sie wird sich reuevoll und beschämt in seine Arme werfen. Er wird sie fest in die Arme nehmen und ihr sagen, alles ist gut, nicht weinen. Sie wird sagen: »O Daddy«, mit zitternder Stimme, und sich fest an ihn klammern, und danach wird alles perfekt zwischen ihnen sein. Er sehnt sich nach diesem köstlichen Triumph. Er kann sogar die schmetternde und aufwühlende Musik hören, die ihn begleiten wird.
Er wendet sich von Charlottes Seite des Zimmers ab und geht zum ordentlichen Bett seiner jüngeren Tochter.
Emily. Die Elfe. Sie wird ihm nie Schwierigkeiten machen. Sie ist eine gute Tochter.
Er wird sie auf seinem Schoß sitzen lassen und ihr aus Märchenbüchern vorlesen. Er wird mit ihr in den Zoo gehen, und ihre kleine Hand wird in seiner verschwinden. Im Kino wird er ihr Popcorn kaufen, und dann werden sie nebeneinander in der Dunkelheit sitzen und über den neuesten Zeichentrickfilm von Walt Disney lachen.
Ihre großen dunklen Augen werden bewundernd zu ihm aufschauen.
Süße Emily. Liebe Emily.
Er zieht die Chenillebettdecke fast ehrfürchtig zurück. Die Zudecke. Das Laken. Er betrachtet das unterste Laken, auf dem sie vergangene Nacht geschlafen hat, und das Kissen, auf dem ihr zierliches Köpfchen ruhte.
Sein Herz schwillt vor Liebe und Zärtlichkeit an. Er legt eine Hand auf das Laken und streicht hin und her, hin und her; er betastet den Stoff, auf dem ihr jugendlicher Körper vor so kurzer Zeit noch gelegen hat.
Er wird sie jeden Abend ins Bett bringen. Sie wird den kleinen Mund auf seine Wange pressen, so warme kleine Küsse, und ihr Atem wird nach dem süßlichen Minzaroma von Zahnpasta riechen.
Er bückt sich und riecht an dem Laken.
»Emily«, sagt er leise.
Oh, wie sehr er sich danach sehnt, ihr Vater zu sein und in diese dunklen, zaghaften Augen zu schauen, diese riesigen und bewundernden Augen.
Seufzend kehrt er in Charlottes Seite des Zimmers zurück. Er läßt das silbergerahmte Foto seiner Familie auf ihr Bett fallen und studiert die Haustiere auf den Regalen ohne Bücher.
Einige der Tiere sehen ihn an.
Mit der Rennmaus fängt er an. Als er die Klappe öffnet und in den Käfig greift, drängt sich das furchtsame Tier in eine Ecke; es spürt seine Absicht und ist gelähmt vor Angst. Er packt es, nimmt es aus dem Käfig. Zwar versucht es, sich zu befreien, aber er hält seinen Körper fest in der rechten Hand, den Kopf in der linken, dreht ruckartig und bricht ihm das Genick. Ein sprödes, trockenes Geräusch. Sein Schrei ist schrill, aber kurz.
Er wirft die tote Rennmaus auf die bunte Bettdecke.
Dies ist der Anfang von Charlottes Erziehung.
Sie wird ihn dafür hassen. Aber nur eine Weile.
Mit der Zeit wird sie einsehen, daß dies unangemessene Haustiere für ein kleines
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