Die zweite Haut
fühlt sich wie ein neuer Mensch.
Aus seiner Hälfte des großen begehbaren Kleiderschranks wählt er eine Baumwollunterhose, Blue Jeans, ein schwarz-blau kariertes Flanellhemd, Tennissocken und ein Paar Nikes aus. Alles paßt ihm wie angegossen.
Es ist so gut, zu Hause zu sein.
21
Paige stand an einem der Fenster und sah die grauen Wolken von Westen näher kommen, die ein Wind vom Pazifik vor sich hertrieb. In ihrer Bahn wurde die Erde unter ihnen dunkler, und die sonnenbeschienenen Gebäude zogen Schattenmäntel an.
Das Allerheiligste der Bürosuite mit ihren drei Zimmern im fünften Stock besaß zwei große Fenster, die einen trostlosen Ausblick auf einen Freeway, ein Einkaufszentrum und die zusammengedrängten Dächer von Reihenhäusern boten, welche sich offenbar bis in alle Ewigkeit durch Orange County erstreckten. Ihr hätte ein malerischer Blick aufs Meer oder ein Fenster zu einem üppig bepflanzten Innenhof gefallen, aber das hätte eine höhere Miete bedeutet, was am Anfang von Martys Schriftstellerkarriere unmöglich gewesen wäre, als sie die Hauptverdienerin war.
Trotz seines zunehmenden Erfolgs und eindrucksvollen Einkommens war es ihr immer noch unmöglich, sich andernorts eine teurere Praxis zu mieten. Selbst eine erfolgreiche literarische Laufbahn war eine unsichere Art, den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Inhaber eines Lebensmittelladens hatte Angestellte, die auch in seiner Abwesenheit Äpfel und Orangen verkaufen konnten, aber wenn Marty krank wurde, kam das gesamte Unternehmen mit quietschenden Reifen zum Stillstand.
Und Marty war krank. Vielleicht schwer krank.
Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie wußten nichts mit Sicherheit. Es paßte mehr zu der alten Paige, der Paige vor Marty, sich über bloße Möglichkeiten statt über gesicherte Fakten Gedanken zu machen.
Genieße den Augenblick, würde Marty zu ihr sagen. Er war der geborene Therapeut. Manchmal dachte sie, daß sie von ihm mehr gelernt hatte als in sämtlichen Vorlesungen für ihren Doktor der Psychologie.
Genieße den Augenblick.
In der Tat wirkte die unablässige Geschäftigkeit der Szene vor dem Fenster belebend. Und obwohl sie früher so depressiv gewesen war, daß schlechtes Wetter ihre Stimmung negativ beeinflussen konnte, hatten die vielen Jahre mit Marty und seiner meist unerschütterlichen Fröhlichkeit ihr ermöglicht, auch in einem aufziehenden Sturm eine feierliche Schönheit zu sehen.
Sie war in einem Elternhaus ohne Liebe, so grimmig und kalt wie eine arktische Höhle, aufgewachsen. Aber diese Zeit lag weit zurück, ihre Folgen waren längst abgeklungen.
Genieße den Augenblick.
Sie sah auf die Uhr und zog die Vorhänge zu, denn die Stimmung der beiden nächsten Patienten würde sicherlich nicht unempfänglich gegenüber grauem Wetter sein.
Bei geschlossenen Vorhängen schien es in dem Raum so gemütlich wie im Wohnzimmer eines Privathaushalts zu sein. Ihr Schreibtisch, die Bücher und die Aktenschränke befanden sich im dritten Zimmer; die Klienten bekamen sie nur in den seltensten Fällen zu Gesicht. Die empfing sie immer in diesem freundlicheren Raum. Das Sofa mit seinem Blumenmuster und den darauf verstreuten Kissen wirkte gemütlich, und die drei gepolsterten Ohrensessel waren alle so groß, daß sich junge Gäste ganz hineinkuscheln und die Beine unter sich verschränken konnten, wenn sie wollten. Lampen mit Seidenschirmen und Fransen verströmten ein mildes Licht, das auf den Nippes auf den Tischchen und den Lladro-Porzellanfiguren in der Mahagonivitrine glänzte.
Normalerweise bot Paige heiße Schokolade und Kekse oder Brezeln mit einem Glas kalter Cola an, was ein Gespräch erleichterte, da die ganze Atmosphäre wie bei Oma zu Hause wirkte. Jedenfalls wie es bei Großmutter zu Hause gewesen war, als noch keine Oma zum Schönheitschirurgen rannte, ihre Figur durch Absaugen der »Rettungsringe« aufpolieren und sich von Opa scheiden ließ, auf Kreuzfahrten für Singles nach Cabo San Lucas oder mit ihrem Freund über das Wochenende nach Vegas flog.
Beim ersten Besuch waren die meisten Klienten erstaunt, daß sie nicht Freuds Gesammelte Werke, eine Couch und die allzu ernste Atmosphäre einer psychiatrischen Praxis vorfanden. Selbst wenn sie ihnen erklärte, daß sie kein Psychiater war, überhaupt keine Ärztin, sondern eine Beraterin mit einem Abschluß in Psychologie, die »Klienten« empfing, keine »Patienten«, Leute mit Kommunikationsproblemen, nicht mit Neurosen oder Psychosen,
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