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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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blieben sie die erste halbe Stunde oder so gehemmt. Schließlich gewann aber das Zimmer – und ihre lockere Art, wie sie gerne glaubte – die Oberhand.
    Ihre nächsten Klienten, um vierzehn Uhr, die letzten des Tages, waren Samantha Acheson und deren achtjähriger Sohn Sean. Samanthas erster Mann, der Vater des Jungen, war kurz nach dessen fünftem Geburtstag gestorben. Zweieinhalb Jahre später heiratete Samantha wieder, und Seans Verhaltensstörungen begannen buchstäblich am Tag der Hochzeit, offensichtlich die Folge seiner irregeleiteten Überzeugung, daß sie seinen toten Vater betrogen hatte und eines Tages auch ihn betrügen würde. Seit fünf Monaten empfing Paige sie zweimal wöchentlich mit dem Jungen, errang sein Vertrauen und stellte eine Gesprächsbasis her, so daß sie sich über die Schmerzen und Ängste unterhalten konnten, die er seiner Mutter gegenüber nicht auszusprechen vermochte. Heute sollte Samantha zum ersten Mal dabeisein, ein wichtiger Schritt, da normalerweise rasche Fortschritte gemacht wurden, wenn das Kind bereit war, den Eltern das anzuvertrauen, was es dem Berater bereits anvertraut hatte.
    Sie setzte sich in den Sessel, den sie für sich selbst reservierte, und griff nach der Reproduktion eines antiken Telefons, das sowohl als Telefon wie auch als Sprechanlage ins Vorzimmer diente. Sie wollte ihre Sekretärin Millie bitten, Samantha und Sean Acheson hereinzuschicken, aber die Sprechanlage summte, bevor sie den Hörer abnehmen konnte.
    »Marty ist auf Leitung eins, Paige.«
    »Danke, Millie.« Sie drückte Leitung eins. »Marty?«
    Er antwortete nicht.
    »Marty, bist du da?« fragte sie und vergewisserte sich, daß sie den richtigen Knopf gedrückt hatte.
    Leitung eins leuchtete, aber es war kein Ton zu hören.
    »Marty?«
    »Deine Stimme gefällt mir, Paige. So melodisch.«
    Er klang … seltsam.
    Das Herz schlug ihr in der Brust, und sie bemühte sich, die Angst zu unterdrücken, die in ihr aufwallte. »Was hat der Arzt gesagt?«
    »Dein Bild gefällt mir.«
    »Mein Bild?« sagte sie fassungslos.
    »Ich mag dein Haar, deine Augen.«
    »Marty, ich verstehe nicht …«
    »Du bist genau das, was ich brauche.«
    Ihr Mund war trocken geworden. »Stimmt etwas nicht?«
    Plötzlich sprach er sehr schnell und reihte die Sätze ohne Unterbrechung aneinander: »Ich will dich küssen, Paige, deine Brüste küssen, dich an mich drücken, mit dir schlafen, ich werde dich sehr glücklich machen, ich will in dir sein, es wird genau wie im Kino werden, die Wonne.«
    »Marty, Liebling, was …«
    Er legte mitten im Satz auf.
    Paige, die gleichermaßen überrascht und verwirrt wie besorgt war, lauschte dem Freizeichen, bevor sie den Hörer wieder auf die Gabel legte.
    Was sollte das bedeuten?
    Es war zwei Uhr, und sie bezweifelte, daß sein Termin bei Guthridge eine Stunde gedauert hatte; demzufolge konnte er sie nicht von der Praxis des Arztes aus angerufen haben. Andererseits konnte er auch noch nicht zu Hause sein, was bedeutete, er mußte sich von unterwegs gemeldet haben.
    Sie hob den Hörer und drückte die Nummer seines Autotelefons. Er nahm beim zweiten Läuten ab, und sie sagte: »Marty, was ist denn nur los?«
    »Paige?«
    »Was sollte das eben?«
    »Was sollte was?«
    »Meine Brüste küssen, um Gottes willen, genau wie im Kino, die Wonne.«
    Er zögerte, und sie konnte das leise Brummen des Fordmotors hören, also war er tatsächlich unterwegs. Nach einem Augenblick sagte er: »Mädchen, ich verstehe nicht.«
    »Vor einer Minute hast du hier angerufen und dich benommen wie …«
    »Nein. Ich nicht.«
    »Du hast nicht hier angerufen?«
    »Nee.«
    »Ist das ein Witz?«
    »Du meinst, jemand hat angerufen und gesagt, er wäre ich?«
    »Ja, er …«
    »Hat er sich angehört wie ich?«
    »Ja.«
    »Genau wie ich?«
    Paige dachte einen Augenblick nach. »Nun, nicht genau. Er hat sich ziemlich wie du angehört, aber auch wieder … nicht ganz wie du. Es ist schwer zu erklären.«
    »Ich hoffe, du hast aufgelegt, als er obszön wurde.«
    »Du …« Sie verbesserte sich: »Er hat zuerst aufgelegt. Außerdem war es kein obszöner Anruf.«
    »Ach? Wie war das noch mal, von wegen deine Brüste küssen?«
    »Nun, das schien nicht obszön zu sein, weil ich dachte, daß du es bist.«
    »Paige, vielleicht kannst du meinem Gedächtnis einmal auf die Sprünge helfen – wann habe ich dich zum letzten Mal während der Arbeit angerufen und dir gesagt, daß ich deine Brüste küssen möchte?«
    Sie lachte.

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