Die zweite Haut
Waschtisch hält er die Hand über das Becken. Es hat zwar schon aufgehört zu bluten, fängt aber jedesmal wieder an, wenn er einen Glassplitter herauszieht. Er dreht den Heißwasserhahn auf, damit das tropfende Blut in den Abfluß gespült wird.
Heute nacht, nach dem Sex, wird er vielleicht mit Paige über seine Schreibblockade sprechen. Falls er so etwas schon einmal gehabt hat, weiß sie vielleicht noch, welche Schritte er bei anderen Gelegenheiten unternommen hat, um die kreative Flaute zu beenden. Er ist sogar überzeugt, daß sie die Lösung wissen wird.
Angenehm überrascht und von einem Gefühl der Erleichterung erfüllt, wird ihm bewußt, daß er sich jetzt nicht mehr allein um seine Probleme kümmern muß. Als verheirateter Mann hat er eine liebende Partnerin, die die vielen Sorgen des Tages mit ihm teilt.
Er hebt den Kopf, betrachtet sein Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken und sagt: »Ich habe jetzt eine Frau.«
Er bemerkt einen Blutfleck auf der rechten Wange und einen weiteren auf dem Nasenflügel.
Leise lachend sagt er: »Du bist so ein Schlamper, Marty. Du mußt ordentlicher werden. Du hast jetzt eine Frau. Frauen haben es gern, wenn ihre Männer ordentlich sind.«
Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder der Hand zu und entfernt die letzten Glassplitter mit der Pinzette.
Seine Stimmung bessert sich zunehmend; er lacht wieder und sagt: »Morgen muß ich als allererstes los und einen neuen Monitor kaufen.«
Er schüttelt den Kopf und ist erstaunt über sein kindisches Verhalten.
»Du bist mir schon einer, Marty«, sagt er. »Aber ich denke, Schriftsteller sollen temperamentvoll sein, oder?«
Nachdem er den letzten Splitter aus dem Häutchen zwischen zwei Fingern gezogen hat, legt er die Pinzette weg und hält die verletzte Hand unter das heiße Wasser.
»Du darfst so nicht mehr weitermachen. Nicht mehr. Du wirst der kleinen Emily und Charlotte eine Heidenangst einjagen.«
Er schaut wieder in den Spiegel, schüttelt den Kopf und grinst. »Du Irrer«, sagt er zu sich selbst, als spräche er voll Zuneigung zu einem Freund, dessen Eskapaden er bezaubernd findet. »Was für ein Irrer.«
Das Leben ist schön.
23
Der bleierne Himmel sank unter seinem eigenen Gewicht noch tiefer. Laut Wetterbericht im Radio sollte es bis zur Dämmerung regnen, was zu Staus während der Hauptverkehrszeit führen würde, bei denen die Hölle dem San Diego Freeway vorzuziehen wäre.
Marty hätte von Guthridges Büro aus gleich nach Hause fahren sollen. Er stand kurz vor Fertigstellung seines neuen Romans, und bei den letzten Geburtswehen einer Story verbrachte er normalerweise soviel Zeit wie möglich zu Hause und arbeitete, weil Ablenkungen katastrophal für den erzählenden Schwung waren.
Außerdem hatte er ungewöhnliche Angst vor dem Fahren. Wenn er zurückdachte, konnte er sich an jede einzelne Minute erinnern, seit er die Arztpraxis verlassen hatte, und war sicher, er hatte Paige nicht während einer Fugue am Steuer des Ford angerufen. Selbstverständlich besaß das Opfer einer Amnesie-Episode keine Erinnerung an den Vorfall, daher brachte vielleicht nicht einmal eine detaillierte Rekonstruktion der vergangenen Stunde die Wahrheit ans Licht. Bei seinen Recherchen für Ein toter Bischof hatte er von Opfern erfahren, die in ihrem dissoziativen Zustand Hunderte Meilen gefahren waren und mit Dutzenden Menschen gesprochen hatten, sich aber später trotzdem an nichts erinnern konnten. Die Gefahr war nicht so groß wie beim Fahren unter Alkoholeinfluß …, aber es wäre auch nicht klug, anderthalb Tonnen beschleunigten Stahls in einem veränderten Bewußtseinszustand zu bedienen.
Trotzdem fuhr er statt nach Hause zum Einkaufszentrum von Mission Viejo. Der Arbeitstag war sowieso schon halb vorbei. Und er war zu aufgewühlt, um zu lesen oder fernzusehen, bis Paige und die Kinder heimkamen.
Wenn das Leben hart wird, gehen die harten Männer einkaufen, daher sah er Bücher und Schallplatten durch, kaufte einen Roman von Ed McBain und eine CD von Alan Jackson und hoffte, solche weltlichen Tätigkeiten würden ihm helfen, seine Sorgen zu vergessen. Zweimal schlenderte er am Süßwarenladen vorbei und betrachtete die großen Kekse mit Schokoladenstreuseln und Pecannüssen, aber er brachte jedesmal die Willenskraft auf, ihrem Sirenenruf zu widerstehen.
Die Welt ist viel schöner, dachte er, wenn man nichts über richtige Ernährung weiß.
Als er das Einkaufszentrum verließ, malten kalte Regentropfen zufällige
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