Die zweite Haut
Keine Schokolade.
Er hielt den besudelten Finger an die Nase und suchte nach einem spezifischen Geruch. Der Geruch war schwach, kaum wahrnehmbar, aber er wußte sofort, worum es sich handelte, hatte es wahrscheinlich schon in dem Augenblick gewußt, als er es berührte, weil er auf einer tiefen, primitiven Ebene darauf programmiert war, den Geruch zu erkennen. Blut.
Wer den Monitor kaputtgemacht hatte, hatte sich geschnitten.
Martys Hände wiesen keine Schnittwunden auf.
Er blieb vollkommen reglos, abgesehen von einem Kribbeln auf der Wirbelsäule, das seinen Nacken mit einer Gänsehaut überzog.
Langsam drehte er sich um und rechnete fest damit, jemanden zu sehen, der hinter ihm den Raum betreten hatte. Aber er war allein.
Regen trommelte auf das Dach und gluckerte in der Nähe in einer Dachrinne. Blitze zuckten, die man zwischen den Lamellen der Fensterläden erkennen konnte, Donner ließ die Fensterscheiben vibrieren.
Er horchte in das Haus.
Die einzigen Geräusche waren die des Sturms. Und das rasche Pochen seines Herzschlags.
Er ging zu den Schubladen an der rechten Seite des Schreibtischs und öffnete die zweite. Heute morgen hatte er die 9-mm-Smith & Wesson dort hineingelegt, und er rechnete damit, daß sie nicht mehr da sein würde, aber wieder wurden seine Erwartungen enttäuscht. Selbst im trüben, täuschenden Licht der Tiffanylampe konnte er die Faustfeuerwaffe dunkel glänzen sehen.
»Ich brauche mein Leben.«
Die Stimme erschreckte Marty, aber das war nichts verglichen mit dem lähmenden Schock, den er verspürte, als er in die Höhe sah und erkannte, um wen es sich bei dem Eindringling handelte. Der Mann stand gerade in der Tür. Er hätte eine von Martys Jeans und Flanellhemden tragen können, die ihm wie angegossen gepaßt hätten, denn er war in jeder Beziehung Martys Ebenbild. Abgesehen von der Kleidung hätte der Eindringling ein Spiegelbild sein können.
»Ich brauche mein Leben«, wiederholte der Mann leise.
Marty hatte keinen Bruder, weder einen Zwillingsbruder noch sonst einen. Und doch konnte nur ein eineiiger Zwilling ihm in allen Einzelheiten – Gesicht, Größe, Gewicht, Statur – derart ähnlich sein.
»Warum hast du mein Leben gestohlen?« fragte der Eindringling, anscheinend von aufrichtiger Neugier erfüllt. Seine Stimme klang gelassen und beherrscht, als wäre die Frage nicht durch und durch verrückt, als wäre es tatsächlich möglich, zumindest seiner Erfahrung nach, ein Leben zu stehlen.
Als er feststellte, daß sich der Eindringling auch wie er anhörte , machte Marty die Augen zu und versuchte zu verdrängen, was vor ihm stand. Er ging davon aus, daß er halluzinierte und selbst unbewußt wie ein Bauchredner für das Phantom sprach. Amnesie-Episoden, ein ungewöhnlich intensiver Alptraum, ein Panikanfall, jetzt Halluzinationen. Aber als er die Augen wieder aufmachte, stand der Eindringling immer noch da, eine störrische Illusion.
»Wer bist du?« fragte der Doppelgänger.
Marty konnte nicht sprechen, weil ihm das Herz bis zum Hals schlug und jeder heftige Schlag ihn fast erstickte. Und er wagte nicht zu sprechen, denn wenn er sich auf ein Gespräch mit einer Halluzination einließ, würde das mit Sicherheit bedeuten, daß der letzte dünne Faden zur Wirklichkeit riß und er völlig dem Wahnsinn verfiel.
Das Phantom wiederholte die Frage und sprach immer noch in einem erstaunten und faszinierten, aber trotz der gedämpften Stimme gefährlichen Tonfall.
Ohne die unheimlich geschmeidigen Bewegungen oder das geisterhafte Schimmern einer halluzinierten oder übernatürlichen Erscheinung, weder durchscheinend noch leuchtend, kam der Doppelgänger einen weiteren Schritt in das Zimmer. Wenn er sich bewegte, glitten Schatten und Licht über ihn hinweg, wie über jeden anderen dreidimensionalen Gegenstand auch. Er wirkte so solide wie ein richtiger Mensch.
Marty bemerkte die Pistole in der rechten Hand des Eindringlings. Am Schenkel. Mündung auf den Boden gerichtet.
Der Doppelgänger kam noch einen Schritt näher und blieb nicht weiter als drei Meter entfernt auf der anderen Seite des Schreibtischs stehen. Mit seinem halben Lächeln, das nervtötender war, als es der finsterste Blick sein könnte, sagte der Bewaffnete: »Wie geschieht es? Was jetzt? Werden wir irgendwie zu einer Person, verschmelzen wir miteinander wie in einem verrückten Science-fiction-Film …«
Entsetzen schärfte Martys Sinne. Er konnte jede Kontur, jede Linie, jede Pore des Gesichts sehen,
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