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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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als erblickte er seinen Doppelgänger durch ein Vergrößerungsglas. Trotz des düsteren Lichts zeichneten sich die Möbel und Bücher in den schattigen Bereichen so deutlich ab wie diejenigen im Licht der Lampe. Doch bei aller gesteigerten Wahrnehmung konnte er die Marke der Pistole des anderen nicht erkennen.
    »… oder muß ich dich einfach töten und deine Stelle einnehmen?« fuhr der Fremde fort. »Und wenn ich dich töte …«
    Es schien logisch, daß eine Halluzination, die er heraufbeschworen hatte, eine Waffe tragen sollte, mit deren Marke er vertraut war.
    »… werden die Erinnerungen, die du mir gestohlen hast, wieder meine, wenn du stirbst? Wenn ich dich töte …«
    Schließlich, wenn es sich bei dieser Gestalt lediglich um eine symbolische Bedrohung handelte, die eine kranke Psyche erzeugte, dann mußte alles – das Phantom, die Kleidung, die Waffe – Martys Erfahrung und Phantasie entspringen.
    »… werde ich dann wieder heil? Wenn du tot bist, werde ich dann wieder mit meiner Familie vereint sein? Und werde ich wieder wissen, wie man schreibt?«
    Umkehrschluß: Wenn die Waffe echt war, dann war auch der Doppelgänger echt.
    Der Eindringling legte den Kopf schief, beugte sich nach vorne und tat so, als interessiere ihn Martys Antwort wirklich, als er sagte: »Wenn ich sein will, was mir vorherbestimmt ist, muß ich schreiben können, aber die Worte fallen mir nicht ein.«
    Die einseitige Unterhaltung überraschte Marty immer wieder mit ihren Wendungen und Umschwüngen, was nicht dafür sprach, daß seine kranke Psyche diesen Eindringling erzeugt hatte.
    Zum ersten Mal klang Zorn aus der Stimme des Doppelgängers, mehr Verbitterung als Wut, aber zunehmend erboster: »Das hast du auch gestohlen, die Worte, das Talent, und ich brauche es zurück, so sehr, daß es mir weh tut. Einen Sinn, eine Bedeutung. Weißt du das? Hast du verstanden? Was immer du bist, kannst du es verstehen? Die schreckliche Leere, die Unausgefülltheit, Herrgott, diese tiefe und dunkle Leere.« Jetzt spie er die Worte aus, und seine Augen funkelten wütend. »Ich will, was mir gehört, mir, verdammt, mein Leben, meins, ich will mein Leben, mein Schicksal, meine Paige, sie gehört mir, meine Charlotte und meine Emily …«
    Die Breite des Schreibtischs und dann zweieinhalb Meter, alles in allem keine vier Meter: todsichere Schußentfernung.
    Marty holte die 9-mm-Pistole aus der Schreibtischschublade, hielt sie mit beiden Händen, löste mit dem Daumen die Sicherung und drückte ab, noch während er die Waffe emporriß. Es war ihm einerlei, ob das Ziel echt war oder seiner Phantasie entsprang. Er wollte es nur auslöschen, bevor es ihn vernichten konnte.
    Der erste Schuß riß ein Holzbruchstück aus der gegenüberliegenden Ecke des Schreibtischs, Splitter flogen in alle Richtungen wie ein Schwarm wütender Wespen. Der zweite und dritte Schuß trafen den anderen Marty in die Brust. Sie gingen weder durch ihn hindurch, als bestünde er aus Ektoplasma, noch zerschmetterten sie ihn wie ein Spiegelbild, sondern katapultierten ihn statt dessen rückwärts, von den Füßen, und überraschten ihn, bevor er selbst die Waffe heben konnte, die ihm aus der Hand fiel und mit lautem Poltern auf dem Boden landete. Er stieß gegen ein Bücherregal, krallte sich mit einer Hand daran fest und zog ein Dutzend Bände zu Boden; ein Blutfleck breitete sich auf seiner Brust aus – gütiger Himmel, soviel Blut –, seine Augen waren im Schock weit aufgerissen, aber er stieß keinen Schrei aus, lediglich ein hartes, leises »Uh«, das mehr Überraschung als Schmerzen ausdrückte.
    Der Mistkerl hätte umfallen müssen wie ein Stein, aber er blieb auf den Füßen. In dem Augenblick, als er gegen das Regal prallte, stieß er sich davon ab, warf sich taumelnd zur offenen Tür hinaus und verschwand im Flur.
    Marty, den die Tatsache, daß er tatsächlich auf jemanden geschossen hatte, mehr verblüffte als die, daß es sich bei diesem »Jemand« um sein genaues Ebenbild handelte, sank gegen den Schreibtisch und rang so verzweifelt nach Luft, als hätte er nicht mehr geatmet, seit der Doppelgänger das Zimmer betreten hatte. Vielleicht hatte er es auch nicht. In Wirklichkeit auf einen Menschen zu schießen war vollkommen anders, als eine Figur in einem Roman zu erschießen: Es schien fast, als würde wie durch einen Zauber ein Teil der Wirkung des Schusses auf den zurückfallen, der abgedrückt hatte. Seine Brust schmerzte, ihm war schwindlig, und sein

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