Die zweite Haut
Blickfeld war kurzzeitig von einer schleichenden peripheren Schwärze bedroht, die er nur mit äußerster Willenskraft zurückdrängen konnte.
Er wagte nicht, ohnmächtig zu werden. Er glaubte, der andere Marty mußte schwer verwundet sein, möglicherweise im Sterben liegen, vielleicht war er auch schon tot. Großer Gott, der wachsende Blutfleck auf seinem Hemd, scharlachrote Blüten, plötzliche Rosen. Aber er wußte es nicht mit Sicherheit. Vielleicht sahen die Verletzungen nur tödlich aus, vielleicht hatte ihn der kurze Blick darauf getäuscht, und vielleicht war der Doppelgänger nicht nur noch am Leben, sondern obendrein kräftig genug, daß er das Haus verlassen und entkommen konnte. Wenn der Kerl entkam und überlebte, würde er früher oder später wiederkommen, genauso unheimlich und verrückt, aber noch wütender und besser vorbereitet. Marty mußte zu Ende bringen, was er angefangen hatte, bevor sein Doppelgänger die Möglichkeit hatte, dasselbe zu tun.
Er sah zum Telefon. Wähle 911. Ruf die Polizei, dann sieh nach dem verwundeten Mann.
Aber die Schreibtischuhr stand neben dem Telefon, und er sah die Zeit – 16:26. Paige und die Mädchen. Auf dem Nachhauseweg von der Schule, später als gewöhnlich, wegen des Klavierunterrichts. O Gott. Wenn sie ins Haus kamen und den anderen Marty sahen oder ihn in der Garage fanden, dann würden sie denken, er wäre ihr Marty, und sie würden zu ihm gehen, ängstlich seine Verletzungen betrachten, ihm helfen wollen, und vielleicht war er noch kräftig genug, ihnen weh zu tun. War die Pistole, die er verloren hatte, seine einzige Waffe? Davon durfte er nicht ausgehen. Außerdem konnte der Dreckskerl ein Messer aus der Küche holen, das Schlachtermesser, konnte es an der Seite verstecken, hinter dem Rücken, konnte Emily nahe herankommen lassen und es ihr in den Hals stoßen, oder tief in Charlottes Bauch.
Jede Sekunde zählte. Vergiß 911. Zeitverschwendung. Die Cops würden nicht vor Paige hier sein.
Als Marty um den Schreibtisch herumging, waren seine Beine wackelig, aber als er durch das Zimmer zum Flur ging schon nicht mehr so sehr. Er sah Blutflecke an der Wand, an den Rücken seiner eigenen Bücher hinunterlaufen, seinen Namen besudeln. Eine wachsende Flut der Dunkelheit zehrte wieder an den Rändern seines Gesichtsfeldes. Er biß die Zähne zusammen und ging weiter.
Als er die Pistole des Doppelgängers erreichte, kickte er sie tiefer in das Zimmer, weg von der Tür. Diese einfache Tat verlieh ihm zusätzliches Selbstvertrauen, weil es etwas zu sein schien, das auch ein geistesgegenwärtiger Polizist getan hätte – es dem Täter schwerer machen, wieder an seine Waffe zu kommen.
Vielleicht wurde er mit der Situation fertig, überstand sie, so seltsam und furchteinflößend sie war, mit dem Blut und allem. Vielleicht schaffte er es.
Also mach den Kerl fertig. Sorge dafür, daß er unten ist, ganz unten, und liegen bleibt.
Um seine Kriminalromane schreiben zu können, hatte er das Vorgehen der Polizei gründlich recherchiert, nicht nur Lehrbücher und Ausbildungsfilme, studiert, sondern uniformierte Streifenbeamte auf nächtlichen Runden begleitet und sich im Dienst und in der Freizeit mit Detectives in Zivil herumgetrieben. Er wußte sehr gut, wie man unter diesen Umständen am besten durch eine Tür ging.
Sei nicht zu selbstsicher. Geh davon aus, daß der Kerl außer der Waffe, die er fallen gelassen hat, noch eine besitzt, Pistole oder Messer. Halt dich geduckt, geh schnell durch die Tür. In einem Türrahmen stirbt man leichter als anderswo, weil sich jede Tür ins Unbekannte öffnet. Nimm beim Gehen die Waffe in beide Hände, Arme nach vorne, starr ausgestreckt, dreh dich nach rechts und links, wenn du die Schwelle überquerst, damit du beide Flanken abdecken kannst. Dann geh auf eine Seite oder die andere, Rücken zur Wand, damit du immer weißt, dein Rücken ist gedeckt, du mußt dich nur um drei Seiten kümmern.
All diese Weisheiten gingen ihm durch den Kopf wie durch den eines der hartgesottenen Polizisten in seinen Romanen – und doch verhielt er sich wie jeder vor Schreck gelähmte Normalbürger, stolperte kopflos in den Flur, hielt die Pistole nur in der rechten Hand, ließ die Arme locker, atmete keuchend und stellte eher eine Zielscheibe als eine Bedrohung für jemanden dar, denn wenn man es genau überlegte, war er kein Cop, nur ein Arschloch, das manchmal über Cops schrieb. Wie lange man sich auch einer Fiktion hingeben mochte, man
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