Diese Dinge geschehen nicht einfach so
außergewöhnlich schön, seine beiden jüngeren Geschwister, und außerdem noch Zwillinge. Immer zu zweit, was noch außergewöhnlicher war. Deshalb schien es absolut logisch, dass die Leute gafften, sozusagen wissenschaftlich nachvollziehbar, Ursache und Wirkung. Ursachen: dass in der Natur grünlich-goldene Augen so selten vorkamen, besonders kombiniert mit tiefbrauner Haut, und dass es in Nordamerika kaum zweieiige Zwillinge gab (ganz anders beispielsweise in Nigeria, wo Zwillinge die Norm waren). Wirkung: Begeisterung und Schock, wie bei einem gelungenen Trick, die Augen zoomen heran, weil sie nicht darauf gefasst waren. Olu fühlte sich immer irgendwie verpflichtet, die Zwillinge zu beschützen, auch weil sie kleiner waren als er. Ihm erschienen sie zerbrechlich, nicht nur jünger, sondern schwächer, schmale Handgelenke und schmale Taille und umso mehr ihr Bruder. Im Vergleich zu seiner Statur, athletisch und robust, war sein Bruder fragil. Das Gegenteil einer Bedrohung.
Dann kam Sadie auf die Welt, und alles verschob sich. Ihr Vater verschwand für vier, fast fünf Tage. Olu wusste, wo er war – die Straße hinunter, im Brigham Hospital –, konnte aber trotzdem die Angst nicht abschütteln, dass sein Vater
weg war
, fort, abberufen, um weit weg eine Schlacht zu schlagen, während Mutter und Söhne sich alleine durchkämpfen mussten. Es hätte geholfen, wenn Fola präsent gewesen wäre. Olu war seiner Mutter nahe, sogar ungewöhnlich nah. Damals gingen sie freitags immer Eis essen, Carvel Ice Cream, in der Route 9 , nur sie beide, und sie bestellten Rockie Road mit feinen Kekskrümeln, und auf der kurzen Heimfahrt redete er pausenlos. Am Wochenende, wenn sein Vater bei Partys von Kollegen war, ging sie abends mit ihm in der Chestnut Hill Mall essen und ließ Taiwo und Kehinde in der Obhut des freundlichen Mr Chalé, während sie zu zweit im Legal’s Muschelsuppe aßen. Insgeheim war er sehr stolz darauf, dass sie sich ähnlich sahen. Fast alle Leute konstatierten das, und Fola lächelte dann. Außerdem wirkte sein Vater immer ganz ehrfürchtig, wenn er Fola anschaute, und Olu glaubte, einen glimmenden Rest dieser Ehrfurcht zu bemerken, wenn sein Vater
ihn
anschaute, jedenfalls hin und wieder, eine Spur davon, zum Beispiel im Krankenhaus, als das Baby geboren wurde.
Aber Fola war abwesend. Verstört und verwirrt. Sie zog sich fast den ganzen Tag in das Zimmer zurück, das für das Baby vorbereitet worden war, und schaute aus dem Fenster. Sie kauerte in einem alten Schaukelstuhl aus Peddigrohr, den sie von der Veranda hereingeholt hatte, als es Winter wurde. Die Heizung lief auf Hochtouren. Sie machte kein Frühstück. Sie verbot ihnen nicht, Zeichentrickfilme zu sehen. Sie machte kein Abendessen. Sie machte keine Anrufe. Sie saß nur da und schaute hinaus in den langsam fallenden Schnee.
Olu bereitete für sich und seine Geschwister das Frühstück zu. Die Zwillinge schauten ihn erwartungsvoll an, während sie ihren Toast knabberten. Vier bernsteinfarbene Augen, die Funken auf seine Stirn schleuderten. Sie kamen ihm auf einmal fremd vor, fast gefährlich.
»Was ist mit Mom los?«, fragte ihn Taiwo.
»Ich weiß es noch nicht.«
»Weißt du’s bald?«
Olu runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Sie hat Angst um das Baby.«
»Aber Dad ist bei dem Baby.«
»Ich weiß.« Olu stand auf, wusste aber nicht, wohin er gehen sollte. Also ging er zur Spüle und wusch sich die Hände, die gar nicht schmutzig waren.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Kehinde. »Er rettet sie.«
»Ich
weiß
. Das ist nicht die Frage.« Sie warteten auf die Frage. Er trocknete sich die Hände ab und spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er benutzte das kratzige Geschirrhandtuch heimlich auch fürs Gesicht, dann rannte er aus der Küche, den Flur entlang, zur Tür hinaus.
Er stand im Garten in seiner Brookline-High-Jacke. Hier war die Luft so kalt, dass sich keine neuen Tränen bilden konnten. Er schaute den Kombiwagen nach, die ganz langsam in Richtung Unterführung fuhren – die Straße war sehr glatt, weil sie unter dem grau-braunen Matsch vereist war –, aber sie schienen alle fest entschlossen zu sein, aus Boston heraus und nach Brookline zu kommen (wohin er auch immer vom Schulbus gebracht wurde), ein Stück die Straße hinauf. Es waren keine zwei Meilen zu dem »Welcome to Brookline«-Schild, weiß mit schwarzen Buchstaben in klarer Schrift, und trotzdem schien es wie eine »Entfernung« von einer Postleitzahl
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