Diese Dinge geschehen nicht einfach so
mit dem dreckigen blauen Kombi, vier Stunden, kam sehr früh zu JFK , saß da und wartete, rührte sich nicht, aß nichts, hielt nur ihren Bauch umklammert und bat Jesus, ihren Freund, diesmal gnädig mit ihr zu sein. Die Zwillinge erschienen im Ankunftsbereich, in dünner Sommerkleidung, der verwischte Lippenstift sah aus wie ein Blutfleck, dunkel orange, ihre Hände ineinandergekrallt, die Augen immer noch niedergeschlagen, viel zu mager, und beide redeten nicht, Kehinde nicht, Taiwo nicht. Wie oft hat sie die beiden gebeten, ihr alles zu erzählen? »Erzählt mir einfach nur, was passiert ist«, »Bitte, sagt es mir«, »Ich flehe euch an«. Sie rief Femi an, sie schrie, weinte, drohte. »Wie kannst du es wagen, mir meine Lieblinge wegzunehmen?«, zischte er. Und legte auf. Sie waren Schatten. Sie schliefen tagsüber und flüsterten nachts in dem Schlafzimmer, das sie sich teilten, in dem Haus, das Fola hasste, weil es keinen Garten gab, in dem sie Blumen anpflanzen konnte. Eine Therapie konnte sie nicht bezahlen, aber sie bat die Schule dringend um finanzielle Unterstützung. Die Prep School war einverstanden, weil Olu vier Jahre lang so phantastische Leistungen gebracht hatte. Die beiden fingen als
Freshmen
an, wiederholten das Jahr, das sie an der internationalen Schule schon gemacht hatten, Kehinde still und verschlossen, Taiwo ruhelos und wütend, und von beiden kein Wort zum Thema
Warum
.
Sie weiß es immer noch nicht.
Sie mustert Taiwo und weiß nichts. Ach, wie sehnt sie sich danach, ihre Tochter in die Arme zu nehmen, um das
Warum
aus ihr herauszupressen – das Leid, die Wut und den Schatten gleich mit, sie so fest zu halten, dass es alles aus ihr heraussprudelt und nur noch ihr Atem übrigbleibt, so wie früher, als Taiwo ein Jahr alt war und noch gehalten werden wollte, und zwar von
ihr
. Aber sie kann es nicht. Sie sieht das Baby vor sich – glitschnass und hilflos, in jeder Hinsicht, nackt und stumm, dort, wo sie es hat fallen lassen –, und sie verkrampft sich vor Schuldgefühlen, ein Gespenst, ein halbes Leben später. Sie will es, aber sie schafft es nicht, sie kann die drei Schritte, die sie trennen, nicht zurücklegen.
»Was ist passiert?«, fragt sie matt vom Esstisch, aber Taiwo hört sie nicht und geht.
4
Kehinde findet Sadie im Garten in einem Liegestuhl, die Füße auf dem Palmenstamm, die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt. Die Entfernung zwischen Haus und Gartenrand ist so groß, dass kein Licht auf diese Stelle fällt. Es gibt nur das Funkeln der Sterne, eine feine Silberschicht, die dem Schwarz einen dunkelgrauen Glanz verleiht. Kehinde zögert einen Moment im Schatten hinter ihr, weil er nicht weiß, ob sie vielleicht schläft. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragt er dann. Sie hat seine Schritte nicht gehört und zuckt zusammen, schnellt nach vorn.
»Hast du mich erschreckt!«, stöhnt sie, »Es ist so dunkel. Und du bist so
leise
.«
Er flüstert verlegen: »Entschuldige.«
»Schon gut.«
»Was machst du hier?«
»Ich habe gerechnet«, antwortet sie. (Sie reden beide leise, als würden sie sich verstecken oder einen Fluchtplan aushecken und weil sie, obwohl sie es eigentlich nicht wollen, überwältigt sind von der Umgebung, von der Dunkelheit im Garten, von dieser Beicht-Stimmung, die entsteht, wenn man sich im Mondlicht unterhält.)
»Setz dich hin«, sagt sie und will aufstehen.
»Nein, bleib hier«, murmelt er. Er setzt sich geschickt bei dem Baum auf den Boden. Sie schweigen beide befangen. Der Schatten ein Trost. Sadie redet als Erste, entnervt von der langen Pause.
»Findest du das nicht auch komisch? Dass sie hier
wohnt
– in Ghana?« Sie schlägt nach einer Mücke.
»Findest du es komisch? Ich weiß gar nicht – vielleicht.«
»Sie hat mir nicht mal gesagt, dass sie wegzieht.«
»Mir auch nicht.« Er zuckt die Achseln. »Aber so ist sie eben.«
»Ich weiß. Aber das hier ist
Ghana
.« Sie reibt sich wütend den Arm, als wäre sie besonders sauer, weil sie von einer Mücke aus
Ghana
gestochen wurde. »Wenn sie das schon machen will, das ganze Afrikading, warum dann nicht Nigeria? Da kommt sie wenigstens her.«
»Hier ist es ruhiger«, sagt Kehinde. Er erwähnt nicht, was er sonst noch denkt, nämlich dass er selbst nie wieder nach Nigeria gehen würde, selbst wenn Fola für immer dort hinziehen würde. »Genauso wie in Mali – das Haus, in dem ich in Douentza gewohnt habe, die Ruhe. Man konnte sie regelrecht
sehen
. Man konnte
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