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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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Leids. Sie legt sich auf den Rücken, und der Sand ist feuchter, als sie gedacht hat, während sie aufrecht saß, eine angenehme Überraschung. Sie streckt die Zehen in Richtung Wasser, aber um diese Uhrzeit kommen die Wellen nicht so weit. Und da liegt sie und raucht, ihre Locken voller Sand. Wieder hört sie etwas.
    Jemand ruft ihren Namen.
     
    »Taiwo«, und noch einmal, von weit weg, aber beharrlich: »
Tai
-wo!«
    Sie richtet sich auf.
    Sieht ihre Mutter.
    Fola, wie herbeigezaubert, ruft: »Schätzchen!« Und kommt zu ihr gelaufen. Die kleinen Jungen zeigen in Taiwos Richtung, Informanten. Aufgeregt kommt Fola aus dem Nichts auf sie zugerannt, ihre weißen Leinenhosen bauschen sich, sie gestikuliert. (Fehlen nur noch die Fackeln.) »Kehinde hat gesagt, du bist auf dem Klo, aber da habe ich dich nicht gefunden. Der Fahrer sagt, er hat gesehen, dass du zum Strand gehst. Was ist passiert, mein Schatz?«, sagt sie, kommt immer näher. »Bist du verletzt? Kannst du aufstehen?« Sie hat Taiwo erreicht und kniet neben ihr nieder.
    Vielleicht ist es die Nähe, die Taiwo durchdrehen lässt, die Tatsache, dass Fola nach all den Jahren so dicht bei ihr ist? Irgendetwas. Sie rastet aus, springt auf, Fola erschrickt und weicht zurück. » OB ICH VERLETZT BIN ?«, schreit Taiwo. Es ist fast so, als wenn irgendwo ein Faden heraushängt und man daran zieht oder er sich irgendwo verheddert und alles sich aufdröselt. Sie lacht und weint und schreit. »Was passiert ist, willst du wissen? Mom, was hast du denn erwartet, dass uns passieren würde?« Und weil Fola völlig verdutzt ist, ruft Taiwo höhnisch: »Ich kann dir sagen, was passiert ist, aber klar.« Obwohl sie versprochen hat, es nie zu erzählen, und sich jahrelang an dieses Versprechen gehalten hat, obwohl sie sich den Moment nie so vorgestellt hat (leerer Strand bei Tage, kleine Jungen, die in der Ferne rumstehen und herüberglotzen), erzählt sie, ohne Pause, wie es passiert ist, wie es anfing:
     
    dass sie beide in dem zweiten Zimmer geschlafen haben, das Kehinde zugewiesen worden war, mit zwei quietschenden Einzelbetten, weil ihr eigenes Zimmer zu groß und zu kalt war mit der Klimaanlage, die sie nicht abstellen konnte (sie war zu hoch angebracht), während bei ihm die Anlage nicht funktionierte. In der ersten Nacht kam sie im Nachthemd an seine Tür. »Kann ich hier schlafen, Kehinde?« Ihr Bruder sagte ja.
    Zuerst schlief sie in dem Bett bei der Tür und Kehinde im anderen, aber das Zimmer war zu heiß, wenn man nicht direkt beim Fenster schlief, also teilten sie sich nach einer Woche einfach das Bett am Fenster, Kopf bei den Füßen, Füße beim Kopf, wie Sardinen in der Dose, die Laken weggestrampelt. Aus Angst, Onkel Femi könnte sie ertappen und ausschimpfen, schlich sie immer vor Sonnenaufgang über den Flur zurück in ihr Zimmer, aber nach zwei Wochen nicht mehr. Sie hatten den Onkel seit ihrer Ankunft in Nigeria erst zweimal gesehen, um die Mittagszeit, bei luxuriösen Sonntagsmahlzeiten, die er für seine Freunde gab. Den Rest der Zeit war er abwesend, hielt sich immer nur im vierten Stock auf, ganz oben, in Räumen, die man nur mit dem Aufzug erreichen konnte, für den man einen Code brauchte, den die Zwillinge nicht kannten, eine unsichtbare Welt. Sie hörten die verschiedenen Gäste kommen und gehen, die Gäste fuhren hoch und wieder hinunter, Musik wurde gespielt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, samstags immer lärmende Partys, Frauengelächter, splitterndes Glas, gedämpfte Rufe, Niké, die schrie – aber die Zwillinge gingen nie nach oben.
    Sie lebten im zweiten Stock wie zwei (reiche) Waisenkinder, versorgt von Onkel Femis zahlreichen männlichen Bediensteten. Die Houseboys weckten sie morgens und legten die Schuluniformen bereit. Die Köche servierten ihnen das Essen. Die Fahrer kutschierten sie in die Schule. Dort verbrachten sie den ganzen Tag und kamen zum Abendessen wieder zurück. Sie aßen zu zweit, machten ihre Hausaufgaben, gingen ins Bett. Sardinen in einer Dose, beim Fenster wegen der Luft, und sie erzählten sich Geschichten aus Boston, meistens ging es um Schnee, als könnte die Erinnerung an die Kälte bewirken, dass sie diese tatsächlich spürten und die stickige Luft nicht mehr so auf ihre Haut presste. Tante Niké erschien immer abends nach dem Essen, um ihnen noch einmal das Fahrstuhl-Verbot einzuschärfen und um nachzusehen, ob sie nicht vielleicht tagsüber tot umgefallen waren. Oft beschwerte sie sich auch über Femi und

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