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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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die Augen. Sah den Fleck auf seiner Hose. Onkel Femi klatschte Beifall.
»E kuuse!«
Gut gemacht.
    Schweiß – oder etwas Ähnliches – lief scheu ihren Schenkel hinunter.
    »Du kannst gehen«, sagte Onkel Femi. Kehinde rannte hinaus, mit zuckenden Schultern. Ließ Taiwo allein zurück. Sie richtete sich auf. Sie schaute ihren Onkel an, nahm ihre Unterhose (zog sie aber nicht an, noch nicht, eine allzu demütigende Geste) und ging aus dem Zimmer, mit einem Loch in ihrem Körper, einem Hohlraum, da, wo ihre Kindheit gewesen war. Sie weinte nicht mehr. Babatunde erwartete sie, und von seinem Gesicht konnte man ablesen, dass er wusste, was passiert war. Sie fand Kehinde weder in der Küche noch in ihrem gemeinsamen Zimmer. Sie ging den Flur hinunter und in ihr eigenes Zimmer, in dem es immer noch zu kalt war. Den Rest des Tages lag sie auf dem Bett und schaute zur Decke. Niemand rief sie zum Abendessen. Am nächsten Morgen kam Babatunde, um sie abzuholen. Mit dem Aufzug nach oben. Eine Woche lang schaute der Onkel zu, während Kehinde sie anfasste. Femi sagte die Sätze, die Kinderschänder in Fernsehfilmen sagten: dass er alles ihrer Mutter sagen werde, wenn sie auch nur einer Menschenseele davon erzählten.
    Dann fand eines Abends eine große Party statt, und sie wurden gezwungen, sich zu schminken und lächelnd zwischen den Gästen herumzugehen, zwischen Jungen und Männern, Nigerianern und Südafrikanern und Weißen, alle Altersgruppen. Ein schwuler Ghanaer sagte: »Ich weiß, wer ihr seid.« Sie fuhren ohne Gepäck mit diesem Ghanaer in einem Taxi weg. Er setzte sie in ein Flugzeug nach New York, und sie kamen nach Hause.
Schnitt. Ende der Szene.
     
    Taiwo schweigt, ihr Atem geht mühsam. Sie will sagen: »Zufrieden? Jetzt weißt du alles« oder so etwas Ähnliches, aber sie kriegt nicht genug Luft. Sie ist zu schwach, schwitzt, ist dehydriert. Eigentlich will sie davonrennen, aber stattdessen beginnt sie zu schwanken. Fola fängt sie gerade noch rechtzeitig auf, ehe sie umkippt, packt sie an den Schultern, bevor sie in den Sand sinkt. Die Bewegung ist instinktiv – weniger eine Umarmung als ein Eingreifen –, aber zum ersten Mal seit Jahren berührt sie Taiwos Haut. Taiwo zuckt erschrocken zurück, die Schwindelgefühle sind vorbei. Sie will
»Lass mich!«
rufen und bricht in Tränen aus.
    6
    Fola zieht sie an ihre Brust und drückt sie fest an sich, damit sie nicht wegläuft oder sich ihr entzieht – aber Taiwo klammert sich an sie, geschüttelt von Schluchzern, zu erschöpft, um ohne Stütze aufrecht zu stehen. Also hält sie sich an Fola fest. Sie kann kaum reden, wie ein Kind, das weint und gleichzeitig versucht, seinen Schmerz mit Worten auszudrücken: »Wie konntest du uns nur dahin schicken? Wie konntest du uns überhaupt wegschicken? Du hast doch gewusst, was passiert. Du hast es gewusst, Mom. Du hast es gewusst.«
    Unter den vielen Gedanken, die Fola durch den Kopf gehen, während sie ihre Tochter an sich presst, ist auch der, dass es sinnlos ist, mit so viel Vehemenz zu lieben, denn die Kraft überträgt sich nicht, hält Taiwo nicht fest, beschützt sie nicht, geht nicht dahin, wo sie hingehen soll, dient nicht als Schutzschild – aber wie soll man sonst lieben? Was könnte sie, während sie das Mädchen festhält, anderes empfinden als diese elementare, verzweifelte Liebe, als diesen Wunsch, sie zu beschützen, ihr Schutzschild zu sein – und gleichzeitig diesen elementaren, verzweifelten Schmerz, versagt zu haben, damals? »Es tut mir so leid«, flüstert sie und streicht über Taiwo lange Dreadlocks.
    Sie weiß, dass »tut mir leid« nicht genügt, aber sie weiß nicht, wie sie sonst anfangen sollte. Was sie jetzt fühlt, hat sie vorher noch nie empfunden, es sind drei Gefühle, die um ihren Atem, um ihre Kraft kämpfen: Erstens die Wut auf Femi, purer, kristallklarer Hass, eine Wut, die nicht durch Mitleid oder Zweifel abgemildert wird; dann der Schmerz, der Taiwos Schmerz ist, ihre Scham, ihr Leid, eine Quelle, die unter ihrer rechten Brust sprudelt; und dann ihre eigene Scham, ihr eigenes Leid, jetzt, da sie weiß, was sie schon die ganze Zeit bei ihren Zwillingen gespürt hat –
sie wurden verletzt
, denkt sie schlicht, schlimm,
weil sie ihre Mutter nicht hatten
. Weil ihre Mutter dachte, eine Mutter wie sie könnten die beiden nicht brauchen. »Ich habe gedacht«, sagt sie zu Taiwo, während sie gequält diesen Gedanken denkt, »ich habe gedacht, dass ich euch
helfe
. Dass es

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