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Dinotod: Tannenbergs vierter Fall

Dinotod: Tannenbergs vierter Fall

Titel: Dinotod: Tannenbergs vierter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Franzinger
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auch bei völlig gesunden Menschen feststellbar sei.
    Deshalb handelte es sich in den meisten Fällen auch keineswegs um ein Anzeichen für eine beginnende oder bereits manifeste psychischen Krankheit, sondern wohl eher um ein Persönlichkeitsmerkmal besonders sensibler Charaktere.
    Dieses Phänomen sei bereits in der Antike aufgetaucht, so u.a. bei Sokrates, der häufig Stimmen gehört habe, die ihm den Weg durch die Gassen Athens gewiesen hätten. Auch sollen die Priester des Orakels zu Delphi auf Grund von ›inneren Stimmen‹ ihre Weissagungen getroffen haben.
    Heiner hatte seinen Bruder ebenfalls beruhigen können. Er hatte darauf hingewiesen, dass auch in der Literaturgeschichte diese scheinbare Persönlichkeitsspaltung keine Unbekannte sei und als Beweis seiner Behauptung Goethe zitiert, der Faust bei einem besinnlichen Osterspaziergang die berühmten Worte in den Mund gelegt hatte: ›Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust ...‹
    Dazu hatte Tannenberg damals bemerkt, dass er oft den Eindruck habe, weit mehr als diese beiden Seelen in seinem Körper zu beherbergen. Woraufhin ihn der Rechtsmediziner als ›multiple Persönlichkeit‹ bezeichnet hatte, die dringend eine stationäre psychiatrische Unterbringung erforderlich mache.
    Nach diesem Gespräch hatte sich Dr. Schönthaler recht intensiv mit dem ihn sehr interessierenden Themenbereich der ›innere Stimmen‹ beschäftigt und seinem alten Freund schließlich einen Ratschlag erteilt, der nach seinen Recherchen von erfahrenen Psychiatern oft als probates Mittel eingesetzt wurde: Sie empfahlen, der inneren Stimme mit markanten Worten den Mund zu verbieten, oder, falls dies nicht helfe, mit einem Schock – zum Beispiel durch plötzliche laute Musik – sich des ungeliebten Widersachers für eine unbestimmte Zeit zu entledigen.
    Wie lange diese Strategie allerdings die Betroffenen von diesem Plagegeist befreite, konnte man jedoch allem Anschein nach nie mit Gewissheit voraussagen. Manchmal überfiel er die Menschen nach wenigen Stunden bereits wieder, ein andermal meldete er sich mehrere Tage oder sogar Wochen nicht mehr zu Wort.
    Obwohl Tannenberg diesen unerwünschten Interventionen meist mit großer Abscheu begegnete, zeigte er sich entgegen sonstigen Gebarens an diesem verregneten und trüben Frühlingstag ausgesprochen kommunikativ, denn er antwortete ihr freundlich: Vielleicht hast du diesmal ja ausnahmsweise recht, du alter Quälgeist! Vielleicht sollte ich mir wirklich mal ernsthaft vornehmen, unverkrampft und nach allen Seiten offen an die ganze Sache heranzugehen ...
    Was soll’s? Wenn Ellen mich wirklich mag, nimmt sie mich, so wie ich bin. Ich hab nämlich keine Lust mich zu verstellen und ihr gute Laune vorzugaukeln, wenn mir absolut nicht danach ist. Und wenn sie damit nicht zurechtkommt, dann wird es wohl sowieso nichts Dauerhaftes mit uns beiden werden.
    An dieser Stelle hatte er gnadenlos einen Schlusspunkt gesetzt, indem er seine Woodstock-CD aufgelegt, die Joe-Cocker-Stelle gesucht und anschließend lauthals ›With a little help from my friends‹ mitgesungen hatte.
     
    Als Tannenberg zum verabredeten Zeitpunkt an dem kleinen dampfenden See eintraf, wurde er bereits von Ellen Herdecke erwartet. Die zierliche, dezent gekleidete Frau stand neben ihrem Auto unter einem riesigen roten Regenschirm.
    Geistesgegenwärtig schob Tannenberg seinen Knirps unter den Beifahrersitz.
    Nachdem er den alten BMW unter einer tropfenden Birke geparkt hatte, flüchtete er sich sogleich unter Ellens Schirm, wobei er natürlich angab, seinen eigenen zu Hause vergessen zu haben.
    Jetzt hab ich sie innerhalb kürzester Zeit schon zum zweiten Mal angelogen, dachte Tannenberg, während er den Schirm übernahm und sie sich lächelnd bei ihm unterhakte. Ob das ein guter Anfang ist? – Ach, Quatsch! Das war’n doch nur Notlügen, im Dienste einer guten Sache, beruhigte er sich selbst.
    Dem trotz des diesigen Wetters sehr romantischen Spaziergang schloss sich der Besuch des neueröffneten Rathauscafés an, von dem aus man einen grandiosen Rundblick über die Stadt genießen konnte. Obwohl die Sichtverhältnisse an diesem trüben Nachmittag nicht unbedingt als optimal zu bezeichnen waren, nutzten Tannenberg und seine Begleiterin intensiv die Gelegenheit, die ihnen diese außergewöhnliche Perspektive bot.
    Als sie endlich an einem Fenstertischchen Platz nahmen, hatten sie ausgiebig die Stadt aus allen vier Himmelsrichtungen betrachtet, über den ungefähren

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