Dorfpunks (German Edition)
gaben sie kein Geld mehr aus, höchstens noch für Zucker. Heffer zog einen 1968er Weißwein aus der Lederjacke, dessen Korken er sogleich mit dem Zeigefinger eindrückte, um ein Probierschlückchen zu nehmen. HB verdrehte die Augen. Ihm als Connaisseur tat das in der Seele weh.
Es war ein erstklassiger Wein, trocken und charaktervoll, den Heffer da aus dem Regal gegriffen hatte. Er schürzte angesäuert die Lippen, zog aus der anderen Jackentasche ein Pfund Zucker und kippte einige Esslöffel in die Flasche. Dann schüttelte er alles durch und fing nun freudig an zu trinken.
Piekmeier, Flo, Sid und ich freuten uns, mit welcher Kennerschaft da erstklassige Stoffe per Zeigefinger geöffnet und dann mit Zucker veredelt wurden, um schließlich auf ex runtergesoffen zu werden.
Neue Namen, neue Wunden, neue Drogen
Ab 1983 fingen wir an, uns neue Namen zu geben. Ich kannte diese Methode der Identitätsformung ja schon vom Dorf, dort wurde keiner mit seinem richtigen Namen gerufen, im Gegenteil: Man war erst drin, wenn man einen eigenen Namen hatte.
In unserer Punkgang war es ähnlich. Wir wussten, dass wir uns neue Namen für unsere neue Familie ausdenken mussten. Ich wurde zu Roddy (Rodriguez) Dangerblood, Flo zu Johnny Anaconda, Piekmeier zu Jimmy Deadfuck, Maria (Flos damalige Freundin) zu Frenchy Diamond, Christoph Paul zu Uglus, Andi Schell zu Eisenkopf und so weiter. Unsere früheren Namen warfen wir ab wie alte Häute, sie waren die Bezeichnungen, die uns von unseren Eltern und einer starren Maschine hinter ihnen übergestreift worden waren, um uns zu identifizieren. Wir wollten aber nicht mehr zu identifizieren sein.
Diese neuen Namen sollten uns befreien. Sie waren eine Unabhängigkeitserklärung.
Genau wie die nicht enden wollenden Initiationsriten.
Bei Meier schnitten wir uns regelmäßig die Arme auf, um durch Blutsbrüderschaft unsere Zusammengehörigkeit zu demonstrieren. Aids war uns noch nicht bekannt. Dietrich Maas schnitt sich mit einem abgeschlagenen Flaschenhals ein fünfmarkstückgroßes Fleischteil aus dem Arm und musste daraufhin zum Arzt gebracht werden, weil die Wunde überhaupt nicht mehr aufhören wollte zu bluten. Er hätte, rein quantitativ, mit ganz Meier’s an jenem Abend Blutsbrüderschaft feiern können. Dietrichs Verhältnis zu Verletzungen war ohnehin angstlos. Ein anderes Mal sprang er an einem Typen hoch, der zwei Köpfe größer als er war, und biss ihm die Nasenspitze wie einen Wurstzipfel ab.
Wir trugen alle ständig Verletzungen mit uns rum, je doller, desto besser. Schnittwunden, Schlagwunden, Brandwunden, alles brachte Respekt. Piekmeier hielt immer ein großes Repertoire an Wunden für uns bereit und brachte sie uns, ob wir wollten oder nicht, gerne bei. Er war der Wundenwart und verteilte die Orden.
Dietrich war es auch, der als Erster Sicherheitsnadeln in den Wangen trug. Er erschien zum Schulfasching in der KGS (Kooperativen Gesamtschule Schmalenstedt) mit je einer Nadel links und rechts im Mundwinkel, die er mit Ketten von Nadeln mit seinen Ohren verbunden hatte. Viele Schüler und Lehrer waren schockiert, sie ahnten nichts von einer gepiercten und tätowierten Zukunft der Welt und hätten jeden für verrückt erklärt, der behauptet hätte, dass zwanzig Jahre später die meisten Jugendlichen Metallteile durch die verschiedensten Körperteile tragen würden und jede Friseuse ein Arschgeweih zwischen Po und Rücken gepeikert hätte.
Piekmeier und ich waren beeindruckt von Dietrichs Aktion. Härter ging’s nimmer. Eines Nachmittags auf dem Markt schossen wir uns jeder ein paar Bier schwedisch rein und setzten unsere ersten Nadeln an. Es erwies sich als schwerer, als wir gedacht hatten, denn die Wangenhaut besteht aus mehreren Schichten, durch die man wie durch zähes Leder dringen muss. Der Schmerz an sich ist eher auszuhalten als dieses stumpfe Arbeiten gegen den Widerstand der eigenen Körpersubstanz. Schließlich aber, wenn die Nadel saß, war es ein gutes Gefühl, und wir brachten jeder gleich noch eine auf der anderen Seite an. Man hatte uns vor Nervenbahnen gewarnt, die einen beim Durchstechen vor Schmerz zusammenbrechen ließen, vor halbseitiger Gesichtslähmung und so weiter, also desinfizierten wir die Wunden ausgiebig mit Wodka. Die Glücksgefühle hielten bis zum nächsten Morgen. Piekmeier erwachte bei einem Freund im Bett, richtete sich auf und verspürte starke Zugschmerzen in seinem Gesicht. Die Sicherheitsnadeln hatten sich nachts geöffnet, und die
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