Drachensturm
gegen Mittag hinaus aufs Meer geflogen, Condesa, und da es inzwischen dunkel wird, frage ich mich, ob er überhaupt wiederkehrt.«
» Ist denn niemand mit ihm geflogen?«, fragte Mila besorgt.
» Er wollte allein sein. Ich glaube, er trauert wirklich um seinen Ritter, auch wenn er es verbirgt.« Der Mönch flüsterte: » Deswegen fürchte ich ja auch, dass er vielleicht über dem weiten Meer den Tod sucht. Selbst Drachen können doch nicht ewig fliegen.« Der Mönch seufzte, dann nahm er Mila bei den Händen. » Kommt, Condesa, ich weiß nicht, ob Drachen eine Seele haben, aber lasst uns für Nabu beten.«
Kemaq presste sich an die Wand und rührte sich nicht. Der Gott war tief über ihn hinweggeflogen, ein riesiger Schatten in der Abenddämmerung, und hatte ihn doch nicht bemerkt. Tamachoc musste seine schützende Hand über ihn gehalten haben. Wenn er erst einmal zurück in Tikalaq war, würde er ihm alles opfern, was er entbehren konnte, da mochte Qupay sagen, was er wollte. Der Gedanke an seinen Bruder erinnerte Kemaq daran, dass er einen Auftrag zu besorgen hatte. Aber er konnte nicht in den Tempel des Mondgottes, nicht, solange es nicht ganz dunkel geworden war. Er zog sich in die nächste Hütte zurück. Sie war furchtbar staubig, aber sie bot ihm wenigstens ein Versteck. Vielleicht bestand in der Nacht eine Möglichkeit, ungesehen in den Tempel zu gelangen. Und wenn nicht? Er hatte nicht unbegrenzt Zeit. Dann dachte er, es könne nicht schaden, sich weiter umzusehen. Er brach also noch einmal auf und schlich am Tempel vorbei und dann zwischen den Hütten weiter. Bald blieb er stehen. Pitumi hatte ihm erklärt, dass jede Festung nur einen Eingang hatte, und den konnte er nun sehen. Er wurde von einem der Ankay Yayakuna bewacht, und oben auf der Mauer blinkten die seltsamen Rüstungen der Fremden. Kemaq kehrte um. Der Palast zog ihn an. Da hatte er die Göttin gesehen, und der helle Schimmer ihres Haares ging ihm nicht aus dem Sinn. Er schlich zwischen den Lehmhäusern zurück Richtung Platz, aber dann siegte doch die Vernunft: Er suchte sich einen verlassenen Lagerraum und wartete notgedrungen. Bald merkte er, wie die Wirkung von Pitumis geheimnisvoller Paste nachließ. Der Schmerz in seinem Knie und die Müdigkeit kehrten zurück. Er versuchte, sich einen Plan zurechtzulegen, aber sein Kopf war leer. Dann sank ihm das Kinn auf die Brust, und er nickte ein.
Als er es bemerkte, riss er schnell die Augen auf. Warum war es so dunkel? Es musste bereits Nacht sein. Also war er doch eingeschlafen! Der Schreck half ihm auf die Beine. Er schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit loszuwerden. Seine Glieder schienen schwer wie Blei. Er ging langsam zum Ausgang der Hütte. Das Knie schmerzte wieder. Die Sichel des Mondes zeigte sich im Westen. Ungläubig starrte Kemaq sie an. So tief? Dann war es ja schon beinahe Morgen! Er musste endlich den Priester aufsuchen. Er schlich zwischen den Hütten Richtung Tempel. Auf den Mauern sah er Männer mit Fackeln auf und ab gehen, und auf dem Platz flackerte ebenfalls ein Feuer, beleuchtete fünf massige Körper. Kemaq zögerte. Ihre Schatten tanzten über der Treppe, die hinauf zum Tempel führte. Würde das reichen, um ihn zu verbergen? Die Treppe war anders als im Tempel von Tikalaq, denn sie teilte die Pyramide nicht in der Mitte, sondern lief flach über die ganze Breite des Stockwerks im Zickzack nach oben. Er schlich vorsichtig näher heran. Am Fuß des Tempels blieb er stehen. Die Schatten der Götter reichten nicht bis ganz hinauf, aber weiter oben war auch das Licht des Feuers nicht mehr so stark. Irgendwie hatte er erwartet, dass dort oben Fackelschein die Anwesenheit weiterer Wachen anzeigen würde, aber dort herrschte Dunkelheit. Vielleicht war Tamachoc weiter auf seiner Seite, aber vielleicht baute er auch zu sehr auf die Hilfe des Gottes. Würde es nicht reichen, wenn er nun umkehrte und dem Hohepriester von Tikalaq berichtete, was er gesehen hatte? Er würde ihm schon jetzt kaum glauben. Er seufzte. Das war es – er würde ihm nicht glauben, nicht, wenn er nicht einen Beweis oder wenigstens eine Nachricht, einen Quipu von einem Priester mitbrachte. Dazu musste er in den Tempel, und es führte nur ein Weg hinein. Aber auf dem Platz waren Wachen, und sie hatten die Treppe ohne Zweifel im Auge – er konnte nicht hinein.
Weitere Fremde, einige davon mit ähnlich hellen Haaren wie die Göttin, die er am Fenster gesehen hatte, trugen verschiedene Gegenstände auf den
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