Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
sein!«
»Diese Männer haben wahrscheinlich keinerlei Hemmungen, ein solches Versprechen zu halten. Für Lucy haben sie es nur zu gern
getan. Aber du kannst ihnen das ruhig abverlangen, denn du wirst niemals auferstehen – wenn du es nicht willst, dich nicht
aus freien Stücken entscheidest, die Meine zu werden. Doch wenn das geschieht, so sage ich dir eines zu: Dann komme ich dich
holen, ganz gleich, ob es in neun oder ihn neunundneunzig Jahren ist, Mina. Ich komme dich holen, sobald du das Grab erreicht
hast.«
|365| Ich dachte über diese Aussichten nach. Das Ganze schien mir völlig absurd zu sein. Könnte es wahr sein? War es möglich, dass
ich doch den beiden Männern, die ich liebte, treu sein konnte? Konnte ich erst ein Leben führen, dann das andere?
Welche andere Lösung fand sich denn für das Dilemma, in dem ich steckte?
Dann stieg in meinen Gedanken das Bild aus dem Traum wieder auf, der groteske Anblick von Lucy, die zu mir herumwirbelte und
mir als grausiger, zischelnder Vampir entgegentrat. Ich erinnerte mich an die angstvolle Stimme Dr. Sewards aus seinem phonographischen
Tagebuch, während er die Geschichte von dem furchterregenden Wesen erzählte, in das sich Lucy verwandelt hatte. Ich konnte
ein Schaudern nicht unterdrücken. Wollte ich wirklich ein Vampir werden, selbst wenn das bedeutete, dass ich die ganze Ewigkeit
in Draculas Armen verbringen konnte?
»Es wäre eine ewige Seligkeit«, sagte er, obwohl ich kein Wort laut ausgesprochen hatte. »Aber ich will dich nicht anlügen.
Der Preis ist hoch. Doch ich würde dir ein Geschenk machen, Mina, ein Geschenk, auf das nur wenige Menschen hoffen können.«
»Ist es denn ein Geschenk?«, fragte ich voller Ungewissheit.
»Ja. Die Unsterblichkeit verleiht dir große Macht. Du lernst doch so gern neue Dinge, Mina. Denk an all die Möglichkeiten!
Denk an alles, was du erkunden und vollbringen könntest, wenn du eine ganze Ewigkeit vor dir hast.«
»Ich muss zugeben, dass es eine aufregende Aussicht ist, endlos viel Zeit zu haben. Ich könnte jedes Buch in deiner Bibliothek
lesen. Ich könnte jedes Buch im Britischen Museum lesen!«
»Du könntest so hervorragend Klavier spielen lernen wie Beethoven, Mozart oder Chopin.«
»Ich könnte so lange leben, dass ich all die wunderbaren Dinge sehen kann, die in der Zukunft noch erfunden werden. Ich könnte
meine Ururenkel kennenlernen.«
|366| »Und du kannst dir aussuchen, welche Gestalt du annehmen willst. Du kannst ihre Ururgrossmutter sein oder auf ewig so gut
und schön bleiben wie heute. Du wirst niemals krank, niemals sterben.«
»Aber das stimmt doch nicht. Du
bist
tot.«
»Nicht tot«, beharrte er.
» Untot.
Das ist etwas völlig anderes. Darwins Evolutionstheorie hat recht. Nur die Stärksten überleben und bilden neue Arten.«
Ich schaute ihn an. »Eine neue Art, die niemals stirbt?«
»Genau.«
»Aber … du hast doch gesagt, dass du seit Jahrhunderten einsam bist.«
»Wenn ich dich hätte, wäre ich nie wieder einsam.«
»Man fürchtet und jagt dich.«
»Wir werden an einem Ort wohnen, wo uns niemand kennt.«
»Und wenn ich so werde wie Lucy und deine Schwestern, was dann? Ich möchte niemals jemanden verletzen.«
»Das wirst du nicht. Du wirst der freundlichste, hübscheste und mildeste Vampir sein, der je die Erde betreten hat.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Weil ich dich bei jedem Schritt führen und leiten werde, meine Liebste. Weil ich dir alles beibringen will, was ich weiß.
Mit der Zeit wirst du so mächtig werden wie ich.«
Ich betrachtete sein Gesicht, das in allen Einzelheiten so wunderschön und vollkommen war. Bis vor einer Woche hatte ich nicht
einmal geglaubt, dass Vampire existieren. Nun verstand ich, dass sie nicht nur sehr wirklich waren, sondern auch, dass nicht
alle die bösartigen, widerwärtigen, skrupellosen Geschöpfe waren, die der Professor beschrieben hatte. Gewiss, auch Dracula
hatte das Böse in sich, aber er kämpfte dagegen an. Er hatte ein Herz und ein Gewissen. Unterschied er sich darin wirklich
so sehr von vielen Menschen, die ich kannte? Er brauchte Blut, um zu existieren, aber er hatte herausgefunden, wie er sich
ernähren konnte, ohne jemanden umzubringen, und in den meisten Fällen, ohne dass sich seine Opfer |367| auch nur daran erinnerten. Wäre es wirklich so schlimm, überlegte ich, wenn ich auf diese Art ewig lebte? Besonders mit einem
solchen Mann an meiner Seite?
»Würdest du
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