Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
weinen, während Jonathan und ich eng |150| aneinandergeschmiegt im Salon saßen und benommen ebenfalls Tränen vergossen.
»Es ist so ungerecht«, sagte ich voller Trauer. »Ich hatte damit gerechnet, mich noch viele Jahre an der Gesellschaft von
Herrn Hawkins erfreuen zu können.«
»Genau wie ich«, erwiderte Jonathan und wischte sich mit fahriger Hand die traurigen Augen. »Wie soll ich nur ohne ihn weitermachen,
Mina? Ich habe mich in so vielen Dingen auf ihn verlassen. Mein Leben lang war er mir Vater, Mentor und Freund. Er hat mir
ein Vermögen hinterlassen, das für so bescheidene Leute wie uns fürstlich zu nennen ist. Du weißt, wie dankbar ich ihm dafür
bin. Aber gleichzeitig …«
»Gleichzeitig was, mein Liebster?«
»Ich bin im April als neu bestallter Rechtsanwalt aus England abgereist, und jetzt liegt plötzlich die Verantwortung für die
ganze Kanzlei in meinen Händen. Ich weiß nicht, ob ich einer so ungeheuren Aufgabe gewachsen bin.«
»Du bist ihr gewachsen, mein Liebster«, bestärkte ich ihn und nahm seine Hände. »Herr Hawkins hätte dich nicht zum Teilhaber
gemacht, wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, dass du es verdient hast. Er hat an dich geglaubt. Ich glaube auch an dich.
Nun musst nur noch du selbst an dich glauben. Und dann nimm einen Tag nach dem anderen, wie er kommt.«
Herr Hawkins hatte in seinem letzten Willen angeordnet, dass er in einem Grab mit seinem Vater ruhen wollte, das auf einem
Friedhof unweit der Londoner Stadtmitte lag. Also traf Jonathan alle notwendigen Vorbereitungen. Ich schrieb an Lucy und teilte
ihr die traurige Nachricht mit. Am 21. September fuhren wir mit dem Zug in die Stadt, wo wir spätabends eintrafen. Die Beisetzung
fand am nächsten Morgen statt. Ich trug mein bestes schwarzes Kleid, dasselbe, das ich auch an meinem Hochzeitstag angehabt
hatte. Jonathan hatte sich rasch einen neuen schwarzen Anzug schneidern lassen. Da Herr Hawkins keinerlei Verwandte hatte,
war Jonathan |151| der Hauptleidtragende. Es waren außer uns und den Dienstboten nur noch eine Handvoll Trauergäste erschienen.
Während der schlichten Zeremonie am Grab standen Jonathan und ich Hand in Hand nebeneinander und nahmen tränenreichen Abschied
von dem Mann, der unser bester und liebster Freund gewesen war. Plötzlich musste ich an Jonathans verstorbene Mutter denken,
die ich ebenso sehr geliebt hatte, und an meine Eltern, die ich nie gekannt hatte, und mir wurde noch trauriger zumute.
»Jonathan«, sagte ich, nachdem die Trauerfeier beendet war und die wenigen Anwesenden gegangen waren, »ist dir bewusst, dass
wir bei unserem letzten gemeinsamen Besuch in London auch an einer Beerdigung teilgenommen haben?«
Er nickte traurig. »Ich habe ebenfalls an Mutter gedacht.«
»Ich habe sie immer so gern im Waisenhaus besucht. Sie war stets so gut gelaunt. Und wie sie in kürzester Zeit aus nichts
eine Mahlzeit zaubern konnte!«
»Wir sind nur ungefähr eine Meile vom Waisenhaus entfernt«, erklärte mir Jonathan. Seit Jahren, seit seine Mutter in den Ruhestand
getreten war, waren wir beide nicht mehr dort gewesen. »Was meinst du? Sollen wir um der guten alten Zeiten willen dort einen
Besuch machen?«
Der Gedanke gefiel mir. In einer halben Stunde hatten wir die Strecke hinter uns gebracht. Als wir draußen vor dem hohen,
alten Gebäude standen und die ausgetretenen Treppenstufen betrachteten, die zur Eingangstür hinaufführten, konnte ich mich
des Gedanken an die jämmerlichen Umstände nicht erwehren, unter denen ich hier vor gut einundzwanzig Jahren eingetroffen war.
»Komm«, sagte Jonathan und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, »wir wollen hineingehen und unserem alten Freund Bradley
Howell, dem Verwalter, guten Tag sagen.«
Als wir läuteten und eingelassen wurden, erfuhren wir, dass inzwischen ein neuer Verwalter den Posten übernommen hatte. Tatsächlich
erkannten wir nur noch sehr wenige Leute. |152| Und natürlich waren alle Kinder, die damals mit uns unter diesem Dach gelebt hatten, längst erwachsen geworden und weitergezogen.
Wir erklärten, wer wir waren, und baten darum, uns kurz umsehen zu dürfen. Das erlaubte man uns.
Zunächst streckten wir den Kopf in die Küche, wo wir uns immer besonders gern zusammengefunden hatten, solange Jonathans Mutter
hier noch das Zepter schwang. Aber wir erkannten keine Menschenseele mehr, und da die Angestellten gerade das Mittagessen
reichten, eilten wir
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