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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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die Vermutung läge nahe –, er lässt das nicht zu benennende, nicht zu begreifende Schicksal spielen, das Fränzchens Unglück bewirkt. Storms Sache ist die Literatur, und die Sache der Literatur steht aller Politik und Polemik fern; Gerechtigkeit ist zu üben gegen die wirkenden Kräfte, gegen die guten wie gegen die schlechten. Alles muss seine Ordnung haben, und Ordnung ist ihm zu allererst Familie. Die Unordnung des ersten Bildes von »Im Sonnenschein« wird überführt in die Ordnung des zweiten Bildes. Das Medaillon, das Fränzchen zu Lebzeiten trug und mit ins Grab nahm, ist bei Renovierungsarbeiten der Familiengruft gefunden worden. Ganz klar: Das Medaillon gehört Fränzchen, es wird ihr zurück ins Grab gegeben.
    Storm ist ganz bei der Sache, bei seinem Heimweh nach dem ehrlichen Kartoffelfeld , wie der erste Storm-Biograph Paul Schütze schreibt. Fontane hat auf das »Kartoffelfeld« so reagiert: Wer auf der Suche nach einem »ehrlichen Kartoffelfeld« sei, der müsse nicht zurück nach Husum, sondern könne in Brandenburg überreichlich fündig werden. Das starke Heimathsgefühl in mir , so heißt es in einem Brief Storms an Mörike, rufe immer wieder sein Heimweh heraus. Die Briefe aus dem Exil erzählen wieder und wieder davon. Seltsam, Emil Kuh bekommt später das genaue Gegenteil zu hören: Was Heimweh sei, habe ich nie empfunden . Man glaubt es nicht.
    Heimweh hat für Storm keinen geographischen Ort, Heimweh ist ihm ein ewig brennendes Seelenfeuer, das verzehren will. Auch in Husum und am Deich brennt dieses Feuer in ihm weiter. Es brennt wie das Haben-Wollen, das sich mit dem Nicht-Haben-Können nie abfinden kann. Dieses Heimweh kennt keine echte Trauer, es ist ein bösartiges Leid, das den Heimwehkranken nie genesen lässt; dieses Heimweh ist nur in der Zeit, es ist unabhängig von Raum und Mensch. Der Kranke kann nur die Symptome bekämpfen, mehr als eine Oberflächenbehandlung ist nicht möglich: Schreiben, das ewig auf der Suche nach dem Zauberwort ist und den Schmerz vorübergehend in seinen Bann holt. Eine endlose Suche wie die nach der blauen Blume, insofern ist Storms Heimweh tief romantisch.
    Wie er die Zeit des Heimwehs still stehen lässt und damit überwindet, zeigt er an einem seiner zeitlos-schönen Gedichte. Er legt es einem Brief an die Eltern bei und schreibt seinem Vater: Du wunderst Dich, wie ich Heimweh haben könne, ich will es Dir sagen.
    »Am Deich«
    An’s Haf nun fliegt die Möwe und Dämmerung bricht herein,
Ueber die feuchten Watten spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet neben den Lachen her;
Wie Träume liegen die Inseln im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gährenden Schlammes geheimnisvollen Ton, –
Einsames Vogelrufen – so war es immer schon!
    An Mörike schickt Storm dieses Gedicht ein Jahr später unter der Überschrift »Am Strande (bei Husum)«; er behält die Schreibweise »Haf« für »Haff« bei. »Haf«, niederdeutsch und eher selten gebraucht, kennzeichnet das Meer, soweit es die Watten der Nordseeküste bei Ebbe bloßlegt . Auch das »Ueber« des zweiten Verses kommt so bei Mörike an. Statt »Lachen« wählt Storm nun »Wasser«. Er ändert die Versordnung des ganzen Gedichts und fügt noch eine vierte Strophe hinzu:
    »Am Strande (bei Husum)«
    An’s Haf nun fliegt die Möwe
Und Dämmerung bricht herein,
Ueber die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
    Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her,
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
    Ich höre des gährenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
    Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind.
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
    Storm hat die ersten beiden Verse der letzten Strophe gegenüber Mörike kritisiert, sie seien noch nicht tief und individuell genug gefaßt . Warum Storm seine Arbeit bemängelt, ist schwer verständlich. Hier ist die Gelegenheit, das Gedicht vor seinem Autor in Schutz zu nehmen. Schließlich stehen die Verse unter der Überschrift »Meeresstrand«, und so werden sie auch in die Gedichtsammlung aufgenommen, die 1856 bei Schindler in Berlin erscheint.
    Was Constanze während der Verlobungszeit an Heimweh- und Krankengeschichten lesen musste, das müssen nun Storms Eltern lesen. Magenübel, Rückenschmerzen, Rheumatismus melden sich wieder. Er strengt sich an: nur nicht Hypochonder werden. Vorn und hinten hab ich ein großes Pflaster, alle 72 Stunden erhalte ich einen

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