Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Geschwisterpaar sich zu seiner Liebe und Leidenschaft bekennt und untergehen muss.
Storms Gespür hat Kuglers Ballade schon beim ersten Hören entlarvt als Kunsthandwerk, dem die poetische Substanz fehlt. Kugler war Historiker, kein Dichter, er fühlte sich als loyaler Beamter und treuer Diener Preußens, darum wich er der eigentlichen Frage aus; er wagte nichts, und er erreichte künstlerisch nichts. Storm aber wagte etwas, und damit hatte er die versammelte sittliche Welt des Tunnels gegen sich. Er ist Dichter mit seelenstarker Sympathie für echte Trunkenheit, und darin ist er ein treuer, tapferer Diener der Poesie. Er macht aus seinen Gefühlen keine Mördergrube und vertritt sie mit »goldener Rücksichtslosigkeit« im Tunnel und anderswo.
Später hat Storm seiner Ballade einen anderen, schwächeren Schluss gegeben. Die letzte Strophe steht nun so zu Buche:
Die Schwester von dem Nacken sein
Löste die zarten Hände:
»Wir wollen zu Vater und Mutter gehn;
Da hat das Leid ein Ende.«
Nichts mehr von der Leidenschaft, die an sich selber festhält, sondern Ergebung in den Tod. Ergebung? Das sieht Storm nicht ähnlich. Der brave Märchen-Schluss, den zwei wohlerzogene, dem Schicksal sich fügende Kinder gestalten, nicht aber der Dichter Storm, hat etwas von Kuglers »correctness«, von Ausweichen und Beschwichtigung. Storm hat diese letzten vier Verse Tunnel-Freund Eggers, seinem größten Kritiker, ans Herz gelegt: Gleichwohl habe ich für Sie einen eigenen Schluß zurecht gemacht; der freilich christlich ebenso wenig passieren darf wie der andere . Gottfried Keller, Storms späterer, wichtigerer Briefpartner, schätzte gerade diesen Schluss hoch ein: Die zwei Schlusszeilen sind alles, und dies Alles ist die ergreifendste Lyrik, die es geben kann; es stimmt jedes Herz, das nichts von Inzest ahnt, weich und traurig und tröstet es zugleich . Weiß Keller mehr vom Inzest, oder hat er sich schlichtweg in seinem Urteil geirrt?
Kugler und Co.: Calau lässt grüßen
Neun Monate nach seinem letzten Berlin-Besuch reiste Storm im September 1853 wieder nach Berlin, um seine Anstellung in der preußischen Justizverwaltung an Ort und Stelle voranzutreiben. Er wohnte bei Franz Kugler in der Friedrichstraße. Storm feierte seinen sechsunddreißigsten Geburtstag bei Kugler.
In einem Brief an Constanze hat Storm aus Berlin darüber berichtet. Kugler und Fontane schlossen Storm im Gästezimmer ein und deckten den Geburtstagstisch. Als sie mich wieder herausließen, stand auf einem Tisch ein Kuchen mit brennenden Wachslichtern und ein frisches Bouquet . Man merkt, die Berliner Freunde haben ihre Freude am Geburtstagskind und an der eigenen Gastfreundschaft. Herzlichkeit und Menschenfreundlichkeit scheint vor allem Fontane in diesen Geburtstag hineingetragen zu haben. Aber auch der musikalische Kugler, er bläst Storm ein Ständchen auf seinem Waldhorn. Die Argonauten-Kollegen haben Geschenke aus dem Füllhorn ihrer Dichterwerkstatt auf den Gabentisch gelegt. Der kleine originelle Adolph Menzel, der »Rubens« unter den Rütli-Verschworenen, überreicht Storm ein verrücktes radiertes Blatt . Es gibt ein Geburtstagsessen, man trinkt Rheinwein und Champagner, und Fontane zog natürlich wieder ein langes Gedicht aus der Tasche .
Man sieht Fontane in der Geburtstags-Tischrunde nach dem günstigen Moment Ausschau halten, dann erkennt er ihn, steht auf, bittet um Gehör und trägt seine Verse vor: Der Herbst ist da, und Storm ist da, / Schenkt ein den Wein, den holden, / Wir wollen diesen goldnen Tag / Verschwenderisch noch vergolden. Fontane liest insgesamt sechs Strophen seines Geburtstagsgedichts. Wird Beifall geklatscht? Äußert sich Storm dazu?
Fontane sagt mit seinem Gelegenheitsgedicht nicht nur Herzlichen Glückwunsch, er verbeugt sich damit auch vor Storms unsterblichem »Oktoberlied«, das er in die von ihm 1852 herausgegebene Anthologie »Deutsches Dichter-Album« aufgenommen hatte. Er dichtet die rüstig ausschreitenden, lebensbejahenden »Oktoberlied«-Verse um und lässt sie ein gastfreundschaftliches Willkommen rufen. Storms Berliner Freunde, Kugler und Fontane an der Spitze, erweisen sich ein weiteres Mal als seine Verehrer und nicht zuletzt als großzügige Gastgeber.
Storm empfindet Sympathie für Kugler. Das mitunter hülflose Stummsein und Schweigen dieses Mannes, den andere für arrogant und unnahbar halten, ist für Storm eher ein Signal nach seinem Herzen. Storms freundschaftlich-distanzierter Respekt
Weitere Kostenlose Bücher