Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Anbefohlenen persönlich auf Wohnungssuche, man trifft sich mit den Familien, man hat gemeinsame musische Interessen, Goßler spielt Cello. In dem zwölf Jahre älteren Richter Rudolf Hermann Schnee (1805–1864) gewinnt Storm einen humorvollen Freund und Helfer, der ihm während der Ausbildungszeit zur Seite steht. Dessen Sohn Karl Hermann (1840–1926), hochbegabt als Zeichner, wird ein bedeutender Landschaftsmaler und Graphiker. Storm schätzt den jungen Mann, der mit seiner Schwester Louise ab und zu in Potsdam und später auch in Heiligenstadt bei den Storms vorbeischaut. Storm wird für Hermann der väterliche Freund, der Vater Schnee für ihn geworden ist.
Hermann zeichnet als Sechzehnjähriger Grab und Todesstätte Heinrich von Kleists und schenkt Storm sein Kunstwerk. Der Dichter nimmt seinerseits den Maler als Vorbild für den jungen Paul Werner in der Novelle »Eine Malerarbeit« (1867). Diese Novelle ist auch aus der Sicht des Autors eine »Malerarbeit«, denn sie vereint vier Maler-Gestalten, die er persönlich gut kannte: Hans Nikolai Sunde (1823–1864) aus Husum, der Storm und Constanze 1857 während seines Besuches in Heiligenstadt porträtierte, Adolph Menzel alias Rubens, den Rütli-Kollegen, »Pflegesohn« Schnee und Christian Rohlfs (1849–1938); letzterer, ein Bauernsohn aus Groß-Niendorf bei Segeberg, später ein weltbekannter Expressionist. Rohlfs war als Vierzehnjähriger vom Baum gefallen und hatte eine schwere Beinverletzung davongetragen. Behandelt wurde er über zwei Jahre von Storms Schwager Stolle, der in Segeberg mit Constanzes Schwester Marie verheiratet war. Storm kannte ihn aus den Erzählungen seines Schwagers und setzte sich für ihn bei Freund Ludwig Pietsch in Berlin ein.
Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft seiner Potsdamer Kollegen streicht Storm in den Briefen an die Eltern heraus: Alle, der Direktor und die Räte, […] sind freundlich und überall bereit, mir zu raten; ich habe schon mit mehreren ein ganz kollegiales Verhältnis; der Rat Meyel (ältester Rat), ein Praktiker durch und durch, hält mir, wenn ich zu ihm komme, stundenlange Vorträge, sehr ersprießliche, ohngefähr wie Deine, Vater!
Sehr wahrscheinlich hat Direktor Goßler seine Belegschaft ins Gebet genommen und angehalten, man möge dem jungen Auszubildenden doch so viel als möglich unter die Arme greifen. Es gibt einen Ausbildungsplan, dem der Assessor folgen muss: zuhören, zuschauen, Akten studieren, die Gerichtsbibliothek kennen lernen.
Böhmische Dörfer in einer ihm unbekannten Justizwelt, in die er eintauchen und in der er schwimmen lernen muss; keine leichte Übung. Er habe, schreibt er seinem Vater, das Handbuch Kochs über den preußischen Zivilprozeß gestern und heute wie ein Hühnerhund abgesucht, er könne keinen klaren Gedanken fassen. Es geht hier im Prozeß alles bunt durcheinander, bald handelt die Partei, bald das Gericht, dann wird Beweis aufgenommen, dann wieder ein bißchen repliziert; mir ist, als seien alle Prozessstadien in Fetzen gerissen und wirbelten lustig um mich herum .
Allen Schwierigkeiten des Eingewöhnens und Umdenkens zum Trotz, Heimweh hin, Gesundheit her, bekundet Storm seinen festen Willen, sich durchzubeißen. Schwankende Stimmung heißt nicht Wankelmut, er will seinen Mann stehen, das soll der Vater jedenfalls wissen. Er arbeitet selbständig, wenn auch unter Aufsicht, seine Arbeit kommt unter die Augen des Direktors, der bewertet und zeichnet ab. Es sieht so aus, als beginne Storm sich in der neuen Berufswelt freizuschwimmen. Er meint, die preußische Justiz sei schneller und effektiver, er feiert ein kleines Erfolgserlebnis, als er zum ersten Mal dem Schreiber das Protokoll frei und in wörtlicher Rede wie ein Simultandolmetscher in die Feder diktiert.
Die musische Freundlichkeit, das Exil-Verständnis, die kollegiale Hilfsbereitschaft des Direktors Goßler dürfen nicht hinwegtäuschen über ein stark ausgeprägtes preußisches Pflichtbewusstsein dieses Mannes, dem der Richterberuf ein heiliges Amt war, das keine Zugeständnisse duldete. So fallen ihm bald die schwachen Seiten seines Gerichtsassessors Storm auf. Dem sind die Gerichtspraxis, der Arbeitsalltag und die über allem wachende preußische Justizordnung ein Buch mit sieben Siegeln, wo es so millionenfach detailliert zugeht. Organisation und Verwaltung, Hierarchie und Instanzen, Kompetenz und Inkompetenz müssen erst einmal begriffen und dann bewirtschaftet werden. Storm erlebt das alles wie
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