Du lebst, solange ich es will
von einer der elf Brücken in Portland springen. Aus dem fünfzehnten Stockwerk, was der Höhe der Fremont-Brücke entspricht, ist das Wasser hart wie Stein. Beim Aufprall werden die Kleidung zerfetzt und die Beinknochen in den Rumpf gerammt.
Manchmal suchen die Taucher aber auch nach Beweismaterial und nicht nach Menschen. Beim letzten Tauchgang hatte Gavin einen Metalldetektor dabei, um eine verchromte 357-Magnum aufzuspüren, mit der ein Angestellter einer Donutbude erschossen worden war. Selbst mit dem Detektor dauerte es vier Stunden. Nachdem Gavin die Waffe gefunden hatte, verstaute er sie mit dem Lauf nach oben in einem wasserdichten Behälter. Die Waffe blieb im Wasser, bis sie ins Polizeilabor kam und dort getrocknet und untersucht wurde. Viele Leute glauben, Fingerabdrücke und Schießpulverrückstände werden vom Wasser weggespült.
Das ist ein Märchen, wie der Mann, der jetzt des Mordes angeklagt ist, gelernt haben dürfte.
Gavin tastet sich durch die Dunkelheit, weiß nicht, wo das Ufer ist, wo er selbst gerade ist, wo er schon gewesen war und wohin er sich vorwagt.
Deswegen hat Gavin Jack, seinen Begleiter. Im Gegensatz zu Gavin sieht Jack, wo Gavin ist und wohin er geht, indem er auf seine Blasen, den Winkel seines Tauchseils zum Ufer und auf die Richtungen seiner Bewegungen achtet. Neben Jack zeichnet ein zweiter Kollege, der sogenannte Back-up-Tender, jede von Gavins Bewegungen auf und erstellt so eine Unterwasserkarte, auf der sowohl Hindernisse und Gefahrenzonen sichtbar werden als auch das Gebiet, das bereits abgesucht wurde. Im Notfall kann man so auch auf Gavins letzte Position schließen.
Gavins Tauchseil ist an einem Pfosten am Flussufer befestigt und Jack leitet ihn durch Ziehen und Rucken. Diese Signale sind die einzige Form der Kommunikation, Orientierung und der Sicherheit. Nur so kann Jack ihn anweisen, höher oder tiefer zu tauchen, nach links oder nach rechts oder ihn fragen, ob alles in Ordnung ist.
Gavin kann Jack wissen lassen, ob er sich verheddert hat, aber dennoch alles okay ist. Oder ob er okay ist, aber Hilfe braucht oder im schlimmsten Fall sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Manche Taucherteams kennen nur ein Signal für Gefahr. Was notgedrungen zu Schwierigkeiten führt, findet Gavin.
Jack hat den Gurt so eingestellt, dass Gavin noch atmen kann, er aber eng genug ist, um jede noch so kleine Bewegung zu spüren. Die Halterung befindet sich etwas seitlich, damit das Tauchseil nicht zwischen Gavins Beine gerät. Gavins Ausrüstung sitzt ordentlich, nichts baumelt herum. Die meisten Taucher kommen bei dieser Art Arbeit ums Leben, indem sie sich in etwas verheddern. Gavin hat eine kleine zusätzliche Pressluftflasche, genannt Ponyflasche, mit der er im Notfall schnell an die Oberfläche zurückkehren kann, eine Schere und eine Drahtzange. Messer könnten ihm oder seiner Ausrüstung Schaden zufügen.
Gavin hat zwei Aufgaben: nach Kaylas Leiche suchen und darauf achten, dass das Tauchseil immer gespannt ist. Wenn es durchhängt, will Jack, dass er weitergeht. Wenn es anzieht, will Jack Gavin damit zurückholen.
Neben dem Back-up-Tender gibt es auch noch zwei Ersatztaucher. Statt alle drei Taucher auf einmal ins Wasser zu schicken, wo sie gleichzeitig der Gefahr ausgesetzt wären, sich in etwas zu verfangen, irgendwo stecken zu bleiben oder einfach zu ermüden, ist es viel besser, warme, ausgeruhte und einsatzbereite Taucher mit vollen Druckluftflaschen für den Notfall bereitzuhaben.
Gavin tastet sich vorwärts und versucht sich vorzustellen, was seine Finger berühren. Steine, einen Ast, Kies, Schlamm, einen alten Reifen. Mit anderen Worten: nichts. Jack leitet ihn einen halben Meter zurück und er fängt wieder von vorne an. Tauchgänge sind anstrengend und kosten viel körperliche und mentale Energie. Gavin denkt an das Mädchen, nach dem sie suchen. Er hat ihr Foto in der Zeitung gesehen. Er weiß, dass die Polizei direkt am Fluss einen Stein mit Blutspuren gefunden hat und das Ufer verwüstet war. Es sieht danach aus, als hätte sie sich gegen den Überfall gewehrt, der Angreifer sie geschlagen, vermutlich vergewaltigt und in den Fluss geworfen, wo sie starb. Die Reihenfolge kann auch anders gewesen sein.
Sie suchen also nach einer Leiche. Man hatte es schon mit Leichenspürhunden in Booten versucht, aber sie haben nicht angeschlagen. Die Leiche könnte kilometerweit flussabwärts getrieben sein oder sich in einem Filter, einem Gebüsch oder einem umgestürzten
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