Dunkler Schnee (German Edition)
und ihre ganze Umgebung. Die Blicke der Nachbarn und Kollegen waren ihr nicht entgangen. Was blieb, war Scham.
Nach sieben Wochen Therapie stand sie wie neugeboren, frisch gestärkt und voller Optimismus an einem diesigen Februarmorgen in der Praxis, bereit, ihren Dienst zu tun. Mit offenen Armen wurde sie von allen empfangen. Sie wollte kein Aufhebens um ihre Rückkehr machen und bat, gleich an die Arbeit gehen zu dürfen. Ihr langer Ausfall wegen Krankheit war ihr peinlich genug. Mittags bat Georg sie ins Büro.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und lutschte an einem kalten Zigarillo herum. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen, sich bequem zurückgelehnt und wippte mit seinem Schreibtischsessel vor und zurück. Schließlich legte er den Zigarillo hin und stand auf. Er griff nach einem Hefter und trat zu ihr; Marisa fühlte merkwürdige Vibrationen, die zum Sträuben ihrer Nackenhaare führten.
„Hier, das sind die neuen Dienstpläne, es gibt neue Schichten, und hier haben wir noch die neuen Karteikarten für die Patienten. Sieh hier!“ Er legte den Hefter vor ihr auf den Tisch, klappte ihn auf und ließ seinen Zeigefinger über Zeilen und Tabellen auf den Papieren fahren. Während er erklärte, kam sein Mund immer näher an ihre Wange heran. Sie spürte seine Hand an ihrem Rücken, hörte seine Worte, die zu einem Wispern wurden, erkannte plötzlich, dass er nicht mehr über die Papiere sprach.
„Weißt du noch? Damals in der Eifel? Das war doch schön mit uns. Ich denke oft daran. Und jetzt, da Laurens nicht mehr da ist, da dachte ich, wir zwei könnten …“ Seine Hand lag nun auf ihrem Nacken, die andere fand ihren Oberschenkel. Erschrocken sprang Marisa auf, ohne zu überlegen gab sie ihm eine Ohrfeige.
Dann lief sie hinaus.
Ein paar Wochen lang sah und hörte sie nicht viel von ihrem Chef. Es war offensichtlich, dass er ihr aus dem Weg ging. Das beängstigende Gefühl beim täglichen Antritt ihres Dienstes ließ mit der Zeit nach, und Marisa arbeitete zunehmend befreit und entspannt, obwohl sie das Gefühl hatte, neu anzufangen. Ihre jahrelange Erfahrung schien mit ihrer Krankheit verschwunden zu sein. Man gab ihr das Gefühl, eine Anfängerin zu sein. Sie hatte nie zuvor mit Beschwerden zu tun gehabt, bekam aber nun in schöner Regelmäßigkeit Ermahnungen in ihr Fach gelegt. Gesundheitlich fühlte sie sich hervorragend und statt mit Elke nach der Arbeit in die nächste Kneipe zu gehen, trafen sie sich gelegentlich zum Kaffee im Bistro.
Dann fuhr Georg in Urlaub. In der Praxis verlangsamten sich schlagartig die Abläufe. Niemandem war die Gereiztheit des Chefs in den letzten Wochen entgangen. Alle schienen aufzuatmen, seiner Kontrolle entgehen zu können. Zwei Tage, nachdem Georg weg war, bekam Marisa ihre Kündigung mit der Post zugestellt.
Als sie den Brief las, war sie nicht empört, nicht mal überrascht. Es war die logische Konsequenz der schriftlichen Ermahnungen, die sich angesammelt hatten. Da wurde der Dienstplan geändert, ohne sie zu informieren. Dass sie deswegen zu spät zur Arbeit kam, wurde gleich notiert; eine neue Schrankordnung brachte ihr den nächsten Rüffel. Sie legte ihre Materialien dahin, wo sie jahrelang gelegen hatten, aber die anderen fanden sie nicht mehr. Es kamen Patienten, die auf ihrem Plan nicht verzeichnet waren. Mit Entschuldigungen musste sie sie wieder wegschicken. So häuften sich im Laufe der Wochen diese Unregelmäßigkeiten, die Marisa zwar mit Stirnrunzeln, aber nicht mit ernsten Sorgen registrierte. Sie bemühte sich, alle neuen Regeln zu befolgen, doch grundsätzlich war sie nicht oder unzulänglich informiert. Teambesprechungen fanden immer dann statt, wenn sie nicht anwesend war; es war, als steckte eine Absicht dahinter. Elke bemühte sich, Marisa auf dem Laufenden zu halten, doch auch diese Bemühungen liefen nicht selten ins Leere, da Änderungen zu schnell beschlossen wurden. Dieses Mobbing war Marisa neu, und da sie grundsätzlich viel Vergnügen an ihrer Arbeit hatte, nahm sie es auf die leichte Schulter. Sie erkannte in allen diesen Dingen die verletzte Eitelkeit Georgs. Er wollte sich rächen und würde sich irgendwann abreagiert haben, sollte er doch. Aber dann kam die Kündigung.
„Nun gut“, sagte sie zu sich selber, „es gibt noch andere Praxen.“ Sie war ab sofort freigestellt und stürzte sich mit Feuereifer auf Arbeitsangebote. Das Zeugnis, das sie von Georg drei Wochen später bekam, entsprach jedoch nicht ihren
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