Dunkler Wahn
Wachsmalkreidestrichen bestand. Es war die Szenerie aus dem Kinderbild, das er im Unschlag unter seinem Scheibenwischer vorgefunden hatte.
Über ihm hatte ein türkisfarbener Himmel geleuchtet, als wolle er sagen: »Tut mir leid, aber Himmelblau war gerade aus«, und Jan hatte zu einer zweidimensionalen Sonne emporgesehen, die aus einem Kreis und mehreren Strichen bestand.
Mitten auf der Wiese war er dann einem Riesen mit dümmlichem Strichlächeln und dunklen Punktaugen begegnet, der sämtliche Strichbäume weit überragte. Er trug eine blaue Hose und einen schwarzen Pullover, von dem sich das rote Kleid eines winzigen Mädchens abhob, das auf seiner rechten Schulter saß.
»Warum hast du Angst vor mir?«, hatte der Riese mit donnernder Stimme gefragt, und Jan hatte ihm entgegnet, dass das nicht stimme. Er habe keine Angst vor ihm.
»Ach ja?«, hatte der Riese spöttisch zu ihm herabgedröhnt, und das Mädchen im roten Kleid hatte mit hysterischer Stimme zu kreischen begonnen.
Und nun, obwohl dieser Traum bereits Stunden zurücklag, hallten die imaginären Worte des Mädchens auf dem Bild noch immer in seinem Kopf wider.
Natürlich hast du Angst vor uns. Natürlich hast du Angst vor uns. Natürlich hast du Angst vor uns.
»Muss ich mir Sorgen um dich machen, Junge?«, holte ihn Marenburg aus seinen Gedanken zurück.
»Nein, ich habe nur einen ziemlichen Kater, das ist alles. Wir haben gestern eine beachtliche Spendensumme erhalten, und das musste natürlich gefeiert werden. Noch etwas Kaffee?«
Rudi winkte ab, wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab und legte den Kopf schief. Es war ihm anzusehen, dass er Jan die Sache mit dem Kater nicht so ganz glaubte. Schließlich kannten sich die beiden, seit Jan ein kleiner Junge und Rudi noch der Nachbar seiner Eltern gewesen war. Nach dem Verschwinden von Jans Bruder Sven, das einen Rattenschwanz weiterer schlimmer Ereignisse nach sich gezogen hatte, war Rudi zu Jans engstem Freund geworden. Er war an Jans Seite geblieben, hatte sich um ihn gekümmert wie um den Sohn, den er nie gehabt hatte, und war froh gewesen, als Jan nach vielen Jahren wieder in sein Elternhaus zurückgekehrt war.
»Ich gehe jetzt zwar flotten Schrittes auf die siebzig zu«, sagte Rudi mit seiner hohen Stimme, die auf eine angeborene Missbildung seiner Stimmbänder zurückführte, »aber ich bin noch nicht senil genug, um dich nicht zu durchschauen, mein Bester. Also, was ist los?«
»Es ist wirklich nichts. Ich habe im Moment nur einfach zu viel um die Ohren. Sag mir lieber, warum du mir heute Brötchen spendierst.« Jan deutete zur Küchenuhr, auf der es gerade erst halb zehn war. »Das ist doch noch gar nicht deine übliche Zeit.«
Der skeptische Blick seines Freundes wich einem breiten Lächeln, und Jan war erleichtert, dass sein Ablenkungsmanöver geglückt war.
»Nun, wie soll ich es sagen«, begann Rudi und suchte nach den richtigen Worten, »es ist vielleicht vorerst das
letzte Mal, dass wir beide zusammen frühstücken können. Ich gehe nämlich auf eine Reise.«
Überrascht stellte Jan seine Tasse ab. »Auf eine Reise?«
Mit einer verlegenen Geste strich Rudi über die Tischdecke. »Also, dazu muss ich wohl ein bisschen ausholen. Ich habe dir doch bestimmt von meinem Computerkurs im letzten Frühling erzählt?«
Jan seufzte. »Rudi, ich war dabei, als du dir danach deinen Laptop gekauft hast.«
»Wie? O ja, richtig. Also, auf jeden Fall habe ich diesen Sommer einen sehr netten Seniorenchat gefunden und mich dort angemeldet.«
Jan nickte. Eine Antwort dieser Art hatte er vermutet. Seit Rudi die virtuelle Welt für sich entdeckt hatte, hatte sich einiges bei ihm verändert. Seit Monaten war er nicht mehr durch die Geschäfte gebummelt, wie er es früher mit Vorliebe getan hatte. Stattdessen gaben sich jetzt Postboten und Fahrer von Paketdiensten bei ihm die Klinke in die Hand und belieferten ihn mit Online-Bestellungen.
Und auch sonst war Rudi nur noch wenig unterwegs. Früher hatte man ihn häufig in einer der Kneipen auf dem Marktplatz oder während des Sommers in einem Biergarten antreffen können, aber seit dem Kauf seines Laptops ging Rudi kaum noch vor die Tür. Obendrein schienen sich auch seine Schlafgewohnheiten gewandelt zu haben, denn seit geraumer Zeit brannte bei dem Mann, der einst mit den Hühnern schlafen gegangen war, noch spät in der Nacht das Licht im Wohnzimmer. Deshalb musste Jan auch nicht lange raten, worauf sein Freund jetzt
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