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hätte es sie nie gegeben.“
„Ist das der Grund, warum Sie es geschrieben haben?“
„Was?“
„Das Gedicht. Ihr Opus Magnum. Um der Welt zu sagen: ‚Sie war hier.‘“
Roland nahm eine Muschel und warf sie ins Wasser.
„Sie war hier“, flüsterte er. „Sie war hier.“
„Aber wenn Sie wüssten, was passiert ist … wenn Sie innerlich sogar bereit wären, sich mit diesem Typ zu konfrontieren … dann wäre sie doch trotzdem noch da gewesen. Ihm zu vergeben, bedeutet nicht, dass Maxine verschwindet.“
Roland sah mich mit seinen zu Schlitzen verengten, stechenden blauen Augen an. „Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass hier gerade eine Blinde vom Sehen spricht …?“
„Was meinen Sie?“
„Vergebung? Waren Sie es nicht, die ihrer Mutter die Pest an den Hals gewünscht hat?“
„Ja. Aber sie liegt auch nicht auf dem Sterbebett und bittet um Vergebung. Sie reist mit ihrem Ehemann Nummer fünf durch die Weltgeschichte und wartet nur darauf, dass mein Vater das Zeitliche segnet, damit sie endlich ihren Teil des Erbes bekommt. Nicht gerade ein nach Vergebung schreiendes Verhalten. Und ganz sicher hat es nichts mit einem Unfall zu tun.“
„Cassie … ich kann nicht verzeihen. Genauso wenig kann es Maria. Es ist, als ob wir da oben in dem Haus lebten und der Tod unser ständiger Begleiter wäre. Trotz der Vögel und der Kaninchen und der Bonsais …“
„… und der Orchideen, der Kois, der, wenn ich richtig gesehen habe, dreiundzwanzig Katzen, aber Gott weiß, wie viele es wirklich sind. Da ich sonst nichts zu tun habe, zähle ich sie jeden Morgen.“
„Ja. Selbst mit all dem, können wir den Tod nicht von uns abschütteln, und das ist es, was uns verbindet.“
„Wie kommt das? Was ist Marias dunkler Schatten?“
„Kann ich Ihnen vertrauen, Cassandra Hayes?“
„Roland … Vertrauen ist ein Haufen gequirlter Mist. Wenn man mich foltern würde, gäbe ich jedes einzelne Ihrer Geheimnisse preis, aber solange das nicht passiert, sind Ihre Geschichten bei mir gut aufgehoben.“
Er grub seine Hand in den feuchten Sand, nahm einen Klumpen und ließ ihn sich langsam durch die Finger tropfen.
„Marias Familie arbeitete auf einer amerikanischen Farm. Sie waren illegal ins Land gekommen, und wie alle illegalen Einwanderer, wurden sie ausgebeutet.“
Er sah mich an, vielleicht weil er wissen wollte, ob und wie sehr mich die Geschichte berührte.
„Die Arbeit war brutal. Der Rücken schmerzte, Blasen an den Händen, bis die Finger bluteten, die Lippen rissig vor Durst. Kinder, die manchmal erst fünf oder sechs waren, pflückten das Obst, das Sie und ich später im Supermarkt kaufen konnten. Und wir denken noch nicht einmal darüber nach. Früchte. Pfefferschoten.
Und dann kam eines Tages Chavez des Wegs. Er kämpfte für die Rechte der Einwanderer, gab alles dafür, und Marias Vater beteiligte sich an dem Kampf, organisierte ihn, wurde zu einem seiner Führer.“
„Die Tochter eines Kämpfers. Die Vorstellung gefällt mir.“ Ich lächelte.
„Sie sind auch eine Kämpferin.“
Ich nickte.
„Aber das war etwas anderes. Chavez und Marias Vater arbeiteten Seite an Seite. Sie wurden zusammen festgenommen. Sie wurden zusammen niedergeschlagen. Den Preis jedoch, den eigentlichen Preis, zahlten Marias Mutter und ihre Kinder – alle acht –, die weiter auf den Feldern schufteten und versuchten, die Abwesenheit ihres Vaters auszugleichen, der für ihre Rechte demonstrierte und kämpfte und mit Leuten redete, um sie für seine Sache zu gewinnen. Sie brauchten das Geld. Schlicht und ergreifend. Die kapitalistischen Dollars von Onkel Sam.“
Der letzte feuchte Sandklumpen war ihm durch die Finger geglitten, und er grub nach einem neuen.
„Wenn sie ihren Vater gebeten hätten, bei ihnen zu bleiben, hätten sie sich ewig weiter abgerackert und sich nie befreien können. Wäre er nicht gegangen, hätten sie sich ebenso tot geschuftet wie ohne ihn. Welche Wahl hatten Sie? Aufbegehren oder zu Grunde gehen?“
„Das Dilemma der unterdrückten Klasse, wie es in der Philosophie so schön heißt. Sie ist … bildschön. Man kann sie sich nicht als Feldarbeiterin vorstellen. Ich jedenfalls kann es nicht. Nicht wenn man sich anschaut, was sie in diesem Haus alles geschaffen hat.“
„Für mich ist es durch sie fast ein heiliger Ort geworden. Sie hatte mir lange Jahre nichts von ihrer Familie, ihrer Kindheit erzählt. Jetzt aber kann ich es sehen. Wie es sie verfolgt. Es ist ein Teil von
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