Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk
völlig verelendet wie die beiden andern. Er litt mit großer Geduld, klagte gar nicht und suchte uns noch auf jede Art mit Hoffnung zu erfüllen. Was mich anbetrifft, so litt ich trotz meines Übelbefindens am Anfang der Reise und meiner gebrechlichen Natur weniger als alle übrigen, hatte nicht viel an Umfang verloren und behielt in überraschendem Grad meine geistigen Fähigkeiten, während die andern völlig verblödet in eine zweite Kindheit eingetreten zu sein schienen, indem sie dümmlich lächelten, freundlich grinsten und nur die albernsten Plattheiten zu äußern imstande waren. Zuzeiten lebten sie jedoch plötzlich auf, als ob das Bewußtsein ihres Zustandes sie beseelte, sprangen in einer Anwandlung von Kraft auf ihre Füße, sprachen eine Weile vernünftig, zugleich freilich mit bitterster Hoffnungslosigkeit von unseren Aussichten. Doch ist es möglich, daß ich mich gleich ihnen über meinen Zustand täuschte, daß ich, ohne es zu wissen, dieselben Torheiten und Kindereien beging wie sie; das ist eine Angelegenheit, über die sich nichts Bestimmtes sagen läßt.
Gegen Mittag erklärte Parker, er sähe Land über Backbord, und mit knapper Not konnte ich ihn davon abhalten, sogleich in die See zu springen und hinzuschwimmen. Peters und Augustus beachteten ihn nicht; sie waren in dumpfes Brüten versunken. Ich blickte in die angedeutete Richtung und sah nicht die blasseste Spur einer Küste, auch wußte ich nur zu gut, wie weit entfernt von jedem Land wir uns befinden mußten. Lange währte es, bis ich Parker von seiner Täuschung überzeugt hatte. Dann brach er in eine Flut von Tränen aus, heulte wie ein Kind unter lautem Schluchzen und Schreien, bis er endlich vor Entkräftung einschlief.
Peters und Augustus machten ein paar vergebliche Versuche, etwas von jenem Leder hinunterzuschlucken. Ich riet ihnen nun das Kauen und Ausspeien an; doch waren sie bereits zu schwachsinnig, um meinem Rat folgen zu können. Ich setzte das Kauen fort, und es verschaffte mir einige Erleichterung; meine größte Sehnsucht aber ging nach Wasser, und nur die Erinnerung an die gräßlichen Folgen, die andern in ähnlicher Lage aus dem Genuß von Seewasser erwachsen waren, hielt mich vom Trinken ab.
So ging der Tag dahin; da entdeckte ich auf einmal ein Segel im Osten, über Backbord. Ein großes Schiff schien es zu sein, und es kreuzte nahezu unsern Kurs in der Entfernung von etwa zwölf oder fünfzehn Meilen. Keiner meiner Gefährten hatte es gesehen, und ich hütete mich, sie darauf aufmerksam zu machen, damit wir nicht abermals enttäuscht würden. Doch als es näher kam, sah ich deutlich, daß es auf uns zuhielt, die leichten Segel vom Winde geschwellt. Ich konnte jetzt nicht länger an mich halten, ich wies meinen Leidensgenossen das Schiff. Sie sprangen alsbald in die Höhe, ergaben sich abermals den ausgelassensten Freudenbezeigungen, weinten, lachten auf trottelhafte Art, machten Luftsprünge, stampften das Verdeck, rissen sich die Haare aus, beteten und fluchten abwechselnd. Ihr Benehmen und die scheinbar gewisse Aussicht auf Rettung ergriffen mich so sehr, daß ich mich nicht enthalten konnte, an ihrem Wahnwitz teilzunehmen; so drückte denn auch ich meinen leidenschaftlichen Dank, meine Begeisterung dadurch aus, daß ich mich auf dem Verdeck herumwälzte, in die Hände klatschte, brüllte und mich überhaupt wie ein Toller betrug, bis ich auf einmal wieder in alle Tiefen des Jammers stürzte; denn das Schiff kehrte uns jetzt den Stern zu und steuerte in einer Richtung, die der vorigen ganz entgegengesetzt war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine armen Gefährten davon überzeugt hatte, daß unsere Hoffnung abermals getäuscht worden sei. Ihre Antwort auf alle meine Versicherungen war, daß sie mich groß ansahen, als wären sie nicht geneigt, derartigen Täuschungsversuchen Glauben zu schenken. Am schmerzlichsten ergriff mich Augustus‘ Verhalten. Trotz aller meiner Beweise des Gegenteils bestand er darauf, das Schiff nähere sich in fliegender Eile, und begann sich bereitzuhalten, drüben an Bord zu gehen. Vorüberschwimmenden Seetang bezeichnete er hartnäckig als das erwartete Boot und schickte sich an, hinüberzuspringen, wobei er in der herzzerreißendsten Weise heulte und schrie, während ich ihn mit aller Kraft daran hindern mußte, sich ins Meer zu werfen. Allmählich wurden wir ruhiger; lange blickten wir dem Schiff nach, bis es endlich im Nebel der Ferne verschwand; denn das Wetter wurde
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