Eidernebel
scheint mir keine geplante Tat gewesen zu sein, sie sieht eher spontan, situativ gebunden aus. Das spricht für eine Art Menschenjäger, der loszieht und bestimmte Regionen durchstreift, um sich wahllos ein Opfer herauszusuchen. Laut Aktenlage ist das Opfer vor ihm geflohen. Der Täter hat ihr nachgesetzt und sie erschlagen. Wenn wir diesen Mord mit unseren aktuellen Fällen vergleichen, gibt es bei dem ersten Mord noch eine gewisse Übereinstimmung. In beiden Fällen muss der Täter die Frauen vorher angesprochen haben. Vielleicht wurden beide als Anhalterinnen mitgenommen. Die fünfjährige Pause dazwischen ist dabei erst mal nichts Ungewöhnliches. Es kann sein, dass der Täter von Reimersbude nach dem Mord eine Art emotionale Abkühlung hatte, bis er dann Jahre später den nächsten Mord in Witzwort beging.«
»Emotionale Abkühlung? Geht es auch mit weniger Fachchinesisch?«, knurrt Jacobsen dazwischen.
»Um es vielleicht in deiner Sprache zu sagen, Rudolf, der erste Mord könnte ihn abgetörnt haben. Er war hinterher zu sehr mit seinen Erinnerungen beschäftigt, hat die Tat wahrscheinlich wieder und wieder im Kopf durchgespielt, sodass seine Gewaltfantasien, die zu der Tat geführt haben, längere Zeit in Schach gehalten wurden.«
»Besteht nun eine Dichotomie zwischen den Fällen, oder nicht?«, fragt Colditz ungeduldig.
»Bei unseren aktuellen Fällen zeigt der Tätertyp ausgesprochen sadistische Wesenszüge. Das ist eindeutig ein geplantes Töten. Es muss einen längeren Täter-Opfer-Kontakt gegeben haben. Es dürfte sich bei dem Täter um einen sympathischen Menschen handeln. Das spricht für jemanden, der gut in ein soziales Umfeld eingebetet ist. Außerdem ist anzunehmen, dass die Menschen in seinem Umfeld, selbst wenn es konkrete Hinweise geben würde, ihn kaum für den gesuchten Mörder halten werden. Tatort und Ablegeplatz Kirche deuten auf eine Art religiösen Wahn hin. Der Täter könnte glauben, mit Gott in direkter Kommunikation zu stehen, oder er hält sich für auserwählt und meint, er müsse die Welt von einem Übel erlösen. Religiöse Wahninhalte erscheinen immer besonders irreal und unsinnig, dabei muss sich der Wahn nicht notwendig aus einem religiösen Erleben entwickelt haben. Der Grund kann auch auf menschliche Konflikte zurückzuführen sein, beispielsweise bei Eheproblemen oder Autoritätsproblemen.«
»Das hört sich ja alles gut und schön an«, interveniert Silvia Haman, »aber hilft uns das auch vor Ort weiter? Ein religiöser Wahn steht niemandem auf die Stirn geschrieben.«
»Ich teile euch nur einige der möglichen Charaktereigenschaften mit. Behaltet sie im Kopf, wenn ihr mit verdächtigen Personen redet. Ist die befragte Person beispielsweise kontaktfreudig, hat sie etwas Missionarisches? Und wie gesagt könnt ihr davon ausgehen, dass sein Umfeld den Täter nicht als verdächtig einstuft. Selbst enge Freunde werden nur Gutes über ihn sagen. Lasst euch also nicht davon blenden.«
»Konzentrieren wir uns als Nächstes auf diesen Gedenkgottesdienst«, übernimmt Colditz wieder die Leitung. »Es gibt bereits ein breites Presseecho auf die Ankündigung. Helene ist der Meinung, dass der Täter wahrscheinlich alle Medienberichte, die mit seinen Taten in Zusammenhang stehen, verfolgt. Da bietet sich uns eine gute Chance. Die Frage ist, wenn er wirklich kommt, gelingt es uns, ihn unter den vielen Besuchern herauszufiltern? Eine Idee ist, während der Feier in allen drei Kirchen ein Gedenkkreuz für das jeweilige Opfer aufzustellen. Vielleicht besucht der Täter dann die Orte. In jedem Fall werden wir heimlich Videoaufnahmen machen und Fotos schießen.«
»Außerdem gibt es einen zweiten Trumpf, die DNA«, wirft Helene Klein ein.
»Schon«, kontert Colditz, »aber es gibt keinen konkreten Verdächtigen.«
»Wir könnten einen großräumigen Speicheltest durchführen lassen.«
»Eiderstedt hat eine Einwohnerzahl von über 11.000 Menschen, Helene«, wirft Stephan Mielke ein. »Wir haben sowieso schon alle Hände voll zu tun. Wie sollen wir das eben schnell nebenbei bewerkstelligen?«
»Der Mann, den wir suchen, verfügt über große Ortskenntnis. Meine Hypothese: Der Täter stammt aus der unmittelbaren Region. Ich würde die erste Testphase auf den nördlichen Teil Eiderstedts eingrenzen, sagen wir mal Westerhever, Osterhever, Poppenbüll, Tetenbüll, Uelvesbüll, Witzwort und Oldenswort. Außerdem können wir uns auf männliche Personen zwischen 16 bis 35 Jahren
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