Ein abenteuerliches Herz
einem Mal. Wir traten nun auch in die wahre, die einzige Gemeinde dieses Krieges ein, in seine geheime Brüderschaft.
Ich denke viel über Ernstel nach. So manches an seinem Tode gleicht einem Rätsel, das schwer zu lösen ist. Was hat es denn zu bedeuten, daß es ihn in demselben Jahre den Händen der Tyrannis zu entreißen gelang? Das stand unter so günstigen Zeichen; alle guten Kräfte wirkten wie in geheimer Verschwörung dazu mit. Doch sollte er vielleicht vor seinem Tode erst dieses Zeugnis geben und sich bewähren in der eigentlichen Sache, der nur so wenige gewachsen sind.
Kirchhorst, 15. Januar 1945
Der Schlaf tut gut, doch gleich nach dem Erwachen stellt der Schmerz sich wieder ein. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß wir die ganzen Wochen täglich an den Jungen dachten, ohne daß uns ein Echo der Wahrheit kam. Freilich bleibt, was ich am 29. November 1944, an seinem Todestage, vielleicht in seiner Todesstunde, in diesen Blättern notiert habe. Ich hatte damals gleich an den weitverbreiteten Volksglauben gedacht, doch ist es merkwürdig, daß ich bei allen Versuchen, Perpetuas Traum zu deuten, nicht im entferntesten diese nächstliegende Möglichkeit sah.
Wir stehen wie Klippen in der lautlosen Brandung der Ewigkeit.
Kirchhorst, 16. Januar 1945
Andacht für Ernstel. Superintendent Spannuth hielt sie in der Bibliothek. Auf dem Tisch das Bild des Jungen zwischen Tannengrün und zwei Wachskerzen. Als Text der Schluß des 73. Psalms und sein Konfirmationsspruch, Lukas 9,62:
»Wer aber seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.«
Anwesend waren die Familie, die Flüchtlinge des Hauses und die beiden Nachbarn, Lahmann und Colshorn.
Der Tod des Sohnes fügt eines der Daten, einen der Angel- und Wendepunkte in mein Leben ein. Die Dinge, die Gedanken, die Taten vorher und nachher unterscheiden sich.
Kirchhorst, 17. Januar 1945
Nach Burgdorf. Bei Beinhorn lebhaft an Ernstel gedacht. Wir gingen dort im vorigen Dezember im Nebel durch die Wälder und sprachen über den Tod. Er meinte: »Zuweilen spürt man darauf eine solche Neugier, daß man ihn kaum erwarten kann.«
Kirchhorst, 20. Januar 1945
Wie die Lemuren versuchen, sich in einen solchen Tod einzudrängen, gewissermaßen mitzuzehren von ihm. So unterstellte der Kompaniechef, der mir die Botschaft sandte, daß Ernstel »für den Führer« gefallen sei. Dabei war ihm die Vorgeschichte des Jungen wohl bekannt. Sodann der Funktionär, der mir, laut Vordruck »in würdiger Form«, die Botschaft zu bringen hatte – grauenhaft. Ja, das gehört zu unserer Wirklichkeit, und früh schon war mir deutlich, daß sich nur eine Qualität ihr sinnvoll zuordnet: der Schmerz.
Zur Tragik der Besten heute gehört es, daß Ethos und Polis sich nicht treffen in der Tat. Doch schneiden sie sich, wie Parallelen, im Unendlichen.
Kirchhorst, 23. Januar 1945
Während ich von dem toten Vater häufig und sinnvoll träume, bleibt es ganz dunkel um den Sohn. Es scheint um seinen Tod noch etwas Ungelöstes, Unversöhntes zu wittern, noch etwas Friedloses. Perpetua hatte in der verwichenen Nacht den ersten deutlichen Traum von ihm. Sie war in einem Krankenhaus und traf ihn auf dem Gange; er erschrak, als er sie sah. Er war schon sehr schwach und starb in ihren Armen; sie hörte, wie der Todesschweiß plätscherte.
Einmarsch der Russen in Ostpreußen und Schlesien. Neue Anstrengungen, um diesen Durchbruch einzudeichen, während im Westen das Gemetzel andauert. Die Energie, die Willensathletik bleibt erstaunlich; freilich entfaltet sie sich nur auf der schiefen Ebene, mit dem einzigen Zug und Gelingen zum Geistlosen und Schlimmeren. Das ist kein Krieg mehr, weshalb es auch nach Clausewitz die Politik zu solchen Lagen nicht kommen lassen darf.
Das Tannenbergdenkmal wurde, wie die Berichte melden, in die Luft gesprengt und Hindenburgs Leichnam in Sicherheit gebracht. Der Alte findet im Grabe keine Ruhe, war ja auch Pförtner, Türöffner Kniébolos, dem er zwar widerstrebte, doch den er auszunutzen gedachte und der sich als listiger erwies.
Kirchhorst, 24. Januar 1945
Traumreiche Nacht. Ich sah mich in einer von bunten Vögeln belebten Fremde auf einem Wege, der durch Wälder führte, doch auch zuweilen durch die Schächte einer Untergrundbahn. An meiner Brust, im Mantel, trug ich eng angeschmiegt links eine helle Taube, rechts eine dunkle Fledermaus. Die beiden Tiere, von denen besonders das dunkle mir teuer war, entflogen
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