Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
spürte wieder die ganze Wucht ihrer Hilflosigkeit.
Einen Moment lang lauschte sie auf die Flurgeräusche und griff nach dem Buch. »Kurz darauf donnerte es, und jemand rief: ›Mireille! Gehen Sie aus dem Regen.‹ Sie flüchtete sich in einen dunklen Hauseingang und zitterte, so durchnässt, wie sie war. Und plötzlich fühlte sie ihre ganze schreckliche Verlassenheit.«
Sie fühlte eine wachsende Unruhe in sich aufsteigen und wäre so gern aus dem Zimmer nach vorn gelaufen, um ihre Mutter oder sonst wen anzurufen, der in ruhigen, warmen Worten zu ihr sprach und ihr den Glauben zurückgab, dass doch noch alles gut werden würde. Ja, sie war eine tapfere kleine Kriegerin, die es mit einem übermächtigen Gegner zu tun hatte. Schon als Kind hatte sie sich so gefühlt, wenn sie, ganz auf sich gestellt, ihren Eltern gegenüberstand, die sie verständnislos ansahen, und trotzig gedacht: Ich oder ihr!
Sie legte das Buch zur Seite, trank noch einen Schluck Wasser und träumte sich in folgendes Bild hinein: Ein junges Paar liegt unbeschwert im durchsonnten Stadtpark auf einer leuchtendblauen Picknickdecke im hellgrünen Gras und sieht seinem nur mit einer Windel und einem dünnen Leibchen bekleideten Baby beglückt dabei zu, wie es quiekend mal hier-, mal dorthin krabbelt. Das hellhäutige Gesicht des Babys ist von einer weißen, unter dem Kinn von einer Schleife gehaltenen Baumwollmütze beschattet.
Dieses Paar waren sie und Thomas. Und der kleine Paul.
***
»Was macht der denn da?«, rief ihr Fahrgast von hinten und streckte reflexartig beide Arme aus, als könnte er so den jeden Moment zu erwartenden Aufprall des Wagens mit dem Bus abfedern.
Chris Mahler, die eben noch ausscheren, auf den Seitenstreifen fahren, anhalten und den Zündschlüssel abziehen und davonlaufen wollte, überlegte einen Moment zu lang. Denn tatsächlich verlangsamte der Bus seine Geschwindigkeit so drastisch, dass der Abstand zwischen ihnen rapide schmolz.
»Verdammt«, fluchte sie und schlug auf das Lenkrad. Sie trat kräftig auf die Bremse und spürte, wie die dadurch freigesetzten Fliehkräfte sie nach vorn drückten. Reflexartig blickte sie in Rück- und Außenspiegel, weil sie fürchtete, die nachfolgenden Wagen könnten ihr Bremsmanöver nicht bemerken und auffahren. Sie legte einen Finger auf den Knopf für die Warnblinkanlage, sah dann aber, dass die Wagen hinter ihr Abstand hielten.
Wahrscheinlich hat sich vor dem Bus ein Stau gebildet, dachte sie, als sie nur noch im Schritttempo dahinrollten, die Tachonadel auf 20 km/h fiel und der Bus endlich zum Stehen kam. Doch kein Stau. Sie wunderte sich, dass die Bremsleuchten des Busses ausgingen, und starrte erwartungsvoll nach vorn. Und dann passierte es: Ein Mann sprang aus dem Bus, kam mit auf den Wagen gerichteter Waffe auf sie zu und eröffnete das Feuer. Mit einemohrenbetäubenden Knall durchschlug die Kugel die Windschutzscheibe. Chris Mahler duckte sich nach unten und glaubte den Lufthauch der Kugel zu spüren, die knapp oberhalb ihres Kopfes in die Sitzlehne einschlug. Dann knallte es wieder und anschließend noch dreimal. Glasscherben der zerborstenen Frontscheibe prasselten auf sie herunter.
»Sind Sie verletzt?«, flüsterte ihr Fahrgast in die Stille.
»Nein, ich glaube nicht!« Doch eigentlich war sie sich da gar nicht so sicher. War ihr nach der dritten oder vierten Detonation nicht ein stechender Schmerz in den Rücken gefahren? Sie wollte schreien, wollte weinen. Doch selbst dazu fehlten ihr in diesen Sekunden die Kraft und der Mut. Sie hatte Angst. Angst, der Schütze könnte sein Werk vollenden. Dass Degowski sein Magazin leer geschossen hatte und bereits in den Bus zurückgelaufen war, das wusste sie nicht.
Später, in der Erinnerung, wird das Ganze zu ihrer eigenen Überraschung eine schroffe, schwindelerregende Schönheit annehmen: die lauten, blitzartigen Einschläge und auch die zerschossene Windschutzscheibe, die beim schnellen, angstvollen Hinsehen aussah wie ein weitverzweigtes, in eine zugefrorene Seeoberfläche hineingeritztes Spinnennetz, in dessen zittrigen Linien das dunkle Wasser aufschimmerte.
Eine Dreiviertelstunde später saß sie in einem kleinen, spärlich möblierten Untersuchungsraum der Autobahnpolizei. Man wollte ihr eine Decke umlegen, doch sie lehnte ab. Der herbeigerufene Arzt, ein übergewichtiger, etwa 60 Jahre alter Mann in einem grauen Freizeitanzug, der sein schütteres Haar kunstvoll über der Glatze drapiert hatte, sah sie besorgt
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