Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
Vom Netzwerk:
Wohnung saubermachte, gemeldet und gesagt, er sitze im Keller über seinen Fotos, alten schwarzweißen Kriegsfotografien, die er bei seinen Gängen über die Flohmärkte der Stadt fand und in eigens dafür gekauften Klarsichthüllen in Ordnern sammelte, und sei für niemanden zu sprechen. Auch nicht für seine Tochter.
    Seit der Trennung von Chris’ Mutter Undine hauste Leo Mahler allein in der für ihn viel zu großen Oldenburger Wohnung, in der sie früher zu dritt gelebt hatten. Wegen ihm, der über dreißig Jahre lang der Chauffeur eines Nachkommens Augusts von Oldenburg gewesen war, hatte Chris sich, auch wenn sie das erst viel später begriff, nach einer abgebrochenen Gärtnerlehre und diversen Aushilfsjobs in Kneipen und Boutiquen, irgendwann entschlossen, Taxi zu fahren.
    Als Zehnjährige war sie manchmal, wenn der Graf im Ausland war, mit ihrem Vater in dessen himmelblauem Jaguar XJ der Serie I aus dem Jahr 1968 ziellos durch die Gegend gefahren. Dann saß sie hinten auf dem Platz des Grafen, und ihr Vater, der von jeher ein Faible für Uniformen hatte, trug seine schwarze Schildmütze, sein mausgraues Jackett mit der durchgehenden Knopfleiste und die dazu passende Hose, und Chris kam sich vor wie eine Prinzessin. Aus dem Radio im Armaturenbrett drang Musik, und hinter den leicht bläulich getönten Scheiben zog wie im Flug die niedersächsische Landschaft mit ihren Watten und Marschen vorbei.
    Das war lange her, und seit dem Weggang ihrer Mutter beschränkte sich ihr Verhältnis zu ihrem Vater auf kurze, alle paar Wochen geführte Telefonate und zwei, drei widerwillig angetretene Kurzbesuche im Jahr, auf denen sie sich seine immer gleichen Schmähreden gegen ihre Mutter anhören musste, bis sie irgendwann traurig und erschöpft wieder in den Zug nach Bremen stieg und sich im Speisewagen betrank.
    »Du findest, so kann man miteinander reden?«, hatte er bei ihrem letzten, im Streit endenden Besuch gerufen. Chris hatte ihm erstmals offen die Schuld am Scheitern seiner Ehe gegeben. Daraufhin war aus seinem Gesicht alle Überlegenheit gewichen und von blanker Wut abgelöst worden. Einen Moment lang schien es, als würde er sie anbrüllen und aus der Wohnung werfen. Doch diesen Gefallen tat er ihr nicht. Stattdessen sagte er kühl: »Die fünfzig Kilometer, die du hierhergefahren bist, kannst du dir in Zukunft sparen.«
    Anschließend hatte er das Zuckerstück, das er noch in seiner leicht zitternden Hand hielt, in die auf dem Tisch stehende Dose zurückgelegt, war aufgestanden und hinausgegangen.
    Chris spielte kurz mit dem Gedanken, es ein viertes Mal bei ihrem Vater zu versuchen. Doch die Vorstellung, abermals Wandas leiernde Stimme zu hören, hielt sie davon ab. Stattdessengriff sie nach ihrer in der Diele unter der Garderobe auf dem Boden stehenden Lederhandtasche, deren Riemen sie sich über die Schulter warf. Dann nahm sie den Schlüsselbund von der kleinen, bei Ikea gekauften Kiefernholzanrichte und verließ ihre Wohnung, die sich unweit des Marktplatzes in der Böttcherstraße befand.
    Chris mochte es, sich unter den Arkaden in den sich dort bis spätabends träge vorbeiwälzenden Passantenstrom zu stürzen und sich so lange willenlos an den zahllosen Geschäften und Boutiquen vorbeitragen zu lassen, bis sie irgendwann auf Höhe der Bredenstraße wieder daraus hervortauchte und ihr Lieblingscafé, Lenny’s Café-Corner, betreten konnte.
    Früher war sie ein paarmal mit Klaus dort gewesen, der Lenny, einen gutaussehenden Norweger mit breiten Schultern und Dreitagebart, von Anfang an nicht gemocht hatte. Einmal hatte es sogar Streit zwischen ihnen gegeben, weil Klaus gesehen zu haben glaubte, wie Chris mit Lenny Heimlichkeiten austauschte. Von da an war sie öfter alleine ins Café-Corner gegangen.
    Als sie nun, die große Uhr über der Eingangstür der Christ-City-Filiale an der gegenüberliegenden Ecke zeigte 23 Minuten nach zehn, dort ankam, saß Lenny mit einer Sonnenbrille auf der Nase an einem der Tische und las Zeitung.
    Chris war bei all ihren früheren Besuchen nicht entgangen, dass Lenny ihr keineswegs zufällig die Hand auf die Schulter legte, wenn sie vor ihm stand und er sie aus seinen blaugrauen Augen ansah. Und tatsächlich hatte sie sich einmal in einem ihrer Träume mit ihm im Bett erlebt. Doch auf den Gedanken, Klaus mit Lenny zu betrügen oder gar wegen ihm zu verlassen, war sie nie gekommen, auch wenn sie, als sie damals neben Klaus aus ihrer erotischen Phantasie erwachte,

Weitere Kostenlose Bücher