Ein Feuer Auf Der Tiefe
düstere Licht würde noch drei Stunden anhalten. Narbenhintern behauptete, dass sie, wenn die Wolken nicht wären, jetzt schon etwas direktes Sonnenlicht sehen könnten. Manchmal fragte sie sich, ob sie die Sonne jemals wiedersehen würde.
Der große Hof der Burg lag auf einem Hang. Matsch und schmutziger Schnee erstreckten sich den Hügel hinab, an den Wänden der Holzhäuser aufgetürmt. Im Sommer war der Ausblick von hier großartig gewesen. Und im Winter hatte sich das Nordlicht grün und blau über den Schnee gewunden, auf dem zugefrorenen Hafen geglänzt und die fernen Berge gegen den Himmel abgesetzt. Jetzt war der Regen ein dichter Nebel, sie konnte nicht einmal die Stadt jenseits der Mauern sehen. Die Wolken hingen als niedrige und zerklüftete Decke über ihrem Kopf. Sie wusste, dass Wachen auf der steinernen Außenmauer der Burg standen, doch heute mussten sie sich hinter Schießscharten verkrochen haben. Kein einziges Tier, kein einziges Rudel war zu sehen. Die Welt der Klauenwesen war ein leerer Ort im Vergleich zu Straum, glich aber auch nicht dem Hochlabor. Hochlabor war ein luftloser Felsbrocken, der einen roten Zwerg umkreiste. Die Klauenwelt war lebendig, in Bewegung; manchmal wirkte sie so schön und freundlich wie ein Urlaubsgebiet auf Straum. In der Tat war sie, wie Johanna erkannt hatte, wirtlicher als die meisten von der menschlichen Rasse besiedelten Welten, sie war gewiss sanfter als die Nyjora und vielleicht so hübsch wie die Alte Erde.
Johanna hatte ihren Bungalow erreicht. Sie blieb unter seinen vorgewölbten Wänden stehen und blickte über den Hof. Ja, es sah ein bisschen wie auf der mittelalterlichen Nyjora aus. Aber die Geschichten aus dem Zeitalter der Fürstinnen hatten nicht die unversöhnliche Kraft vermittelt, die in solch einer Welt steckte: Der Regen rann, soweit ihr Blick reichte. Ohne anständige Technik konnte sogar ein kalter Regen tödlich sein, und der Wind auch. Und das Meer war nichts für eine nachmittägliche Segelpartie; sie dachte an wogende Hügelchen von Kälte, vom Regen zerknittert… und ohne Ende. Sogar die Wälder rings um die Stadt waren bedrohlich. Es war leicht, in sie hineinzuspazieren, doch es gab keine Radioorter, keine als Baumstümpfe getarnten Erfrischungsstände. Wenn man sich verirrte, würde man einfach umkommen. Nyjoranische Märchen erhielten jetzt eine besondere Bedeutung für sie: Es bedurfte keiner großen Vorstellungskraft, um die Elementargeister von Wind und Regen und Meer zu erfinden. Das war die Erfahrung aus der Zeit vor der Technik, dass einen, selbst wenn man keine Feinde hatte, die Welt selbst töten konnte.
Und sie hatte eine Menge Feinde. Johanna zog die winzige Tür auf und ging hinein.
Ein Klauenrudel saß um das Feuer. Es rappelte sich auf und half Johanna aus der Regenjacke. Sie zuckte nicht mehr unter der Berührung der scharfzahnigen Schnauzen zusammen. Es war einer ihrer üblichen Gehilfen, fast konnte sie sich die Mäuler als Hände vorstellen, die geschickt die Ölfell-Jacke von ihren Schultern zogen und sie neben das Feuer hängten.
Johanna warf Stiefel und Hose ab und nahm den gefütterten Mantel entgegen, den das Rudel ihr reichte.
»Essen. Jetzt«, sagte sie.
»Gut.«
Johanna setzte sich auf ein Kissen neben der Feuergrube. Eigentlich waren die Klauenwesen noch primitiver als die Menschen auf der Nyjora: Die Klauenwelt war keine herabgesunkene Kolonie. Sie hatten hier nicht einmal Legenden als Wegweiser. Hygiene war eine fragwürdige Angelegenheit. Vor Holzschnitzerins Zeiten hatten die Klauenärzte ihre Patienten/Opfer zur Ader gelassen… Sie wusste jetzt, dass sie im hiesigen Gegenstück zu einer Luxussuite wohnte. Die sorgfältig polierten Möbel waren nicht das Übliche. Die auf Säulen und Wände gemalten Muster hatten viele Stunden Arbeit erfordert.
Johanna legte das Kinn in die Hände und starrte in die Flammen. Vage nahm sie das Rudel wahr, das um die Grube schritt und Töpfe übers Feuer hängte. Dieses hier sprach sehr wenig Samnorsk, es nahm nicht an Holzschnitzerins Datio-Projekt teil. Vor vielen Wochen hatte Narbenhintern sie gebeten, bei ihr einziehen zu dürfen – was konnte besser sein, um den Lernvorgang zu beschleunigen? Johanna erschauderte bei der Erinnerung. Sie wusste, dass der Narbige nur ein einzelnes Glied war, dass das Rudel, das Vati umgebracht hatte, selbst gestorben war. Johanna verstand es, doch jedesmal, wenn sie ›Wanderer‹ sah, sah sie den Mörder ihres Vaters fett
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