Ein Garten im Winter
nachts, wenn sie nicht schlafen konnten, nachzuerzählen. »Wir haben doch immer noch uns«, erklärte Meredith.
»Ja«, sagte Nina, obwohl ihre Blicke sie verrieten. Sie wussten, dass das nicht reichte.
Als Meredith später neben ihrem Mann im Bett lag, kam es ihr so vor, als habe sie einen schrecklichen Fehler begangen, und konnte vor Reue nicht einschlafen. Es war falsch gewesen, die Trauer für ihren Vater arbeitend und nicht trauernd durchzustehen. Sie hatte so viel Angst vor ihren Gefühlen gehabt, dass sie sie in sich verschlossen und weggeschoben hatte. Aber dadurch hatte sie die Feier verpasst. Im Gegensatz zu Nina hatte sie nicht die Geschichten gehört, die Dads Freunde zu erzählen hatten.
Gegen drei Uhr morgens stand sie auf und ging zur Veranda, wo sie in eine Decke gehüllt dasaß und über den Dunst ihrer Atemwolken ins Leere starrte. Aber es war nicht kalt genug, um ihren Schmerz zu betäuben.
Die nächsten drei Tage versuchte Nina, für ihre Familie da zu sein, aber all ihre Bemühungen erwiesen sich als Fehlschlag. Ohne Dad waren sie wie verstreute Figuren eines Brettspiels, ohne gemeinsames Ziel oder Regelbuch. Die Mutter blieb im Bett, starrte ins Leere und strickte. Sie kam nicht mal zu den Mahlzeiten herunter und ließ sich höchstens von Meredith überreden, eine Dusche zu nehmen.
Schon immer hatte sich Nina neben ihrer überaus tüchtigen Schwester etwas nutzlos gefühlt, doch jetzt trat dieses Gefühl stärker zutage als je zuvor. Meredith war wie ein weiblicher Pacman, der unbeirrt vorrückte und eine Pflicht nach der anderen erledigte. So unglaublich es war, hatte sie es doch geschafft, direkt am Tag nach der Trauerfeier zur Arbeit zu gehen, so dass sie jetzt die Plantage und das Lagerhaus leitete, sich um ihre Familie kümmerte und es dennoch schaffte, mindestens dreimal am Tag nach Belije Notschi zu kommen, um Ninas Pflichten zu überwachen.
Nichts, was Nina tat, war richtig; Meredith musste alles noch mal machen. Staubsaugen, Spülen, Wäsche waschen. Alles. Eigentlich hätte Nina etwas gesagt, aber offen gestanden war es ihr vollkommen egal, und Meredith wirkte wie ein aufgeschreckter Vogel, der wild zwitschernd umherflatterte. Sie wirkte auch panisch, wie eine Frau auf einer Klippe, die jeden Moment fallen oder springen konnte.
Aber mit all dem kam Nina zurecht.
Was sie umbrachte, war der Schmerz.
Er ist fort , dachte sie zu den unpassendsten Gelegenheiten, und das tat so weh, dass ihr der Atem stockte, dass sie stolperte oder ein Glas fallen ließ (eines von Merediths Lieblingsgläsern).
Sie musste weg. Ganz einfach weg von hier. Sie konnte hier nicht helfen, am wenigsten sich selbst.
Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, ließ er sie nicht mehr los. Den ganzen Tag versuchte sie, sich das auszureden, sich zu ermahnen, dass sie nicht einfach weglaufen konnte, und schon gar nicht so kurz vor Weihnachten, doch um drei Uhr nachmittags ging sie hinauf in ihr Zimmer, verschloss die Tür und rief Sylvie in New York an.
»Hey, Sylvie«, sagte sie, als ihre Verlegerin sich meldete.
»Hi, Nina. Hab gerade an dich gedacht. Wie geht’s deinem Vater?«
»Er ist tot.« Sie versuchte, keinerlei Gefühl bei diesem Wort zu entwickeln, aber es war schwer. Sie ging zum Fenster ihres einstigen Kinderzimmers und starrte hinaus in den fallenden Schnee. Es war früher Nachmittag, doch wurde es bereits dunkel.
»Ach, Nina. Das tut mir leid.«
»Ja, schon gut.« Allen tat es leid. Was sollte man auch sonst sagen? »Ich muss wieder arbeiten.«
Kurzes Schweigen. »So schnell schon?«, fragte Sylvie dann.
»Ja.«
»Bist du sicher? Diese Zeit kann man nicht nachholen.«
»Glaub mir, Sylvie, das wäre das Letzte, was ich wollte.«
»Ist gut. Gib mir ein bisschen Zeit zum Organisieren. Ich weiß, dass ich jemanden in Sierra Leone brauche.«
»Ein Kriegsgebiet wäre perfekt«, sagte Nina.
»Aber du weißt schon, dass du ernste Probleme hast, oder?«
»Ja«, bestätigte Nina. »Das weiß ich.«
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann legte Nina auf. Sie fühlte sich besser – und schlechter, daher ging sie nach unten und entdeckte in der Küche Meredith, die sich um den Abwasch kümmerte. Typisch.
Nina griff sich ein Küchentuch. »Das wollte ich doch machen.«
»Der Berg hier ist noch von gestern, Nina. Wann genau wolltest du dich denn darum kümmern?«
»Hey, jetzt mal langsam. Ist doch nur schmutziges Geschirr und nicht –«
»Menschen, die verhungern, ich weiß. Schon
Weitere Kostenlose Bücher